Vor einem Jahr stand Lennard Kämna ganz oben. Champagner, Blumen, Goldmedaille: Auf dem Siegertreppchen jubelten der Fischerhuder und sein Team Sunweb, während das Team Sky um Radsport-Superstar Chris Froome den Siegern höflich Applaus spendieren musste. Gemeinsam mit seinen Teamkollegen flog Kämna über die Straßen im norwegischen Bergen zum Weltmeistertitel im Mannschaftszeitfahren. Sein erster großer Titel auf allerhöchstem Niveau. Im Straßenrennen der U 23 wenige Tage später verpasste der damals 21-Jährige den Weltmeistertitel nur knapp und gewann die Silbermedaille.
Nun startet die WM in Innsbruck, und Lennard Kämna wird seinen Titel nicht verteidigen können. Wenn seine Teamkollegen am Sonntag die Startrampe zum Mannschaftszeitfahren hinunterrollen, wartet Kämna noch auf sein Auftaktrennen am Montag: Einzelzeitfahren, U 23. Für den Kampf gegen die Uhr mit seinem Team Sunweb wurde er nicht nominiert. Kämna erlebt eine Saison, geprägt von Krankheiten, Rückschlägen und einer dreimonatigen Rennpause. Nun kämpft er sich wieder an seine Bestform heran.
Vorfreude trotz Trainingsrückstand
Anfang September schlürft Kämna in einem Café an einer Johannisbeerschorle, trotz vierstündiger Trainingsfahrt über 140 Kilometer wirkt der Fischerhuder mit den schmalen Schultern ausgeruht. Er lacht viel und ist gut gelaunt, während draußen ein Sommertag im September zu Ende geht. Vor wenigen Tagen feierte Kämna seinen Geburtstag, er ist 22 Jahre alt geworden. Natürlich freue er sich auf die Weltmeisterschaft, auch wenn er seinen Titel mit der Mannschaft nicht verteidigen kann. „Ich bin durch und durch Rennfahrer“, sagt er. „Zwar habe ich noch ein bisschen Trainings- und Rennrückstand, aber ich hoffe einfach auf ein gutes Bein. Dann ist alles möglich.“
Kämna trainiert hart in diesen Tagen vor der WM, die Zeit ist knapp. „Da bleibt nicht viel Spielraum“, sagt er. Seine Rückkehr feierte der Jungprofi bei der Dänemark-Tour im August, bei der Neuauflage der Deutschland-Tour war er auch am Start. Er habe nicht lange gebraucht, um sich wieder an den Rhythmus aus Training und Wettkampf zu gewöhnen, sagt Kämna. „In Dänemark habe ich gemerkt, dass mein Level zwar noch nicht da ist, wo ich schon war, aber dass es auch gar nicht so schlecht ist“, sagt er. „Ich hatte richtig Bock, wieder Radrennen zu fahren.“
Es fehlt ein deutscher Star
Seit Jahren gilt Kämna als eines der hoffnungsvollsten Talente des deutschen Radsports. Fans, Veranstalter und Funktionäre in Deutschland, sie brauchen ihn. Sie brauchen einen deutschen Fahrer, der einen Hype auslösen kann. Einen Fahrer, der bei den großen Rundfahrten, dem Giro d’Italia, der Tour de France oder der Vuelta a España, um einen Sieg im Gesamtklassement kämpfen kann. Die Veranstalter und Sponsoren schielen wieder auf den deutschen Markt, der viel Potenzial bietet und sich langsam erholt von den Dopingskandalen um Lance Armstrong, Jan Ullrich und all die anderen gefallenen Helden. 2017 startete die Tour de France in Düsseldorf, 2018 wurde die Deutschland-Tour wiederbelebt. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender übertragen die Tour de France zwar wieder, auch die Zuschauer kehren zurück – doch es fehlt der deutsche Star. Einer, der nicht nur Sprintetappen gewinnt, sondern auf den Serpentinen in den Alpen angreift.
Aber es braucht Zeit, um bei den großen Rundfahrten zu den Favoriten zählen zu können. Der aktuelle Tour-de-France-Champion Geraint Thomas ist 32 Jahre alt, Chris Froome gewann seine erste Frankreich-Rundfahrt 2013 im Alter von 28 Jahren. Die Hoffnungen ruhen nun auf der aufstrebenden Generation von deutschen Fahrern, die auf Tony Martin, André Greipel und Marcel Kittel folgt: Emanuel Buchmann, 25 Jahre alt, ist einer dieser Hoffnungsträger des deutschen Radsports. Vor wenigen Tagen beendete er die Spanien-Rundfahrt auf dem zwölften Platz. Die Entdeckung der aktuellen Saison ist der 24-jährige Berliner Maximilian Schachmann, der in Zukunft gemeinsam mit Buchmann für das deutsche Team Bora-Hansgrohe fahren wird. Im Mai gewann er eine der härtesten Etappen des Giro d’Italia. Lennard Kämna, so heißt es immer wieder, bringe auch alle Voraussetzungen mit, um ein Rundfahrer zu werden: Stark im Zeitfahren und trotzdem leicht genug, um eines Tages die monumentalen Bergpässe der großen Rennen zu meistern – das hoffen viele.
Kurz vor der WM im vergangenen Jahr sehen sich die Experten in ihren Prognosen bestätigt: Es ist die dritte Woche der Spanien-Rundfahrt, die 16. von 21. Etappen, Einzelzeitfahren. Die Gesichter der Fahrer sind gezeichnet von den Strapazen, es ist Kämnas erste große Rundfahrt. Er wird sie nicht beenden, aber in diesem Zeitfahren erreicht er im Kampf gegen die Uhr und die besten Fahrer der Welt den achten Platz – mit damals 21 Jahren. Es folgt die Weltmeisterschaft mit Goldmedaille. Kämnas Saisonleistung beflügelt die Fantasie von Fans und Experten. Vor dem Start der Saison 2018 stellt sein Teammanager Iwan Spekenbrink die ganz großen Rennen in Aussicht: „Wenn seine positive Entwicklung so weitergeht, hat Lennard Kämna Optionen auf einen Start beim Giro d’Italia oder bei der Tour de France.“ Es kam anders.
Keine Verbitterung, kein Frust
„Es war ein langer Prozess“, sagt Kämna heute in der Rückschau. Er spricht darüber, als sei diese Phase für ihn schon weit weg, abgehakt. Seine Stimme ist ruhig, sie klingt in keinem Moment verbittert oder frustriert. Der Prozess, wie er sagt, beginnt mit einer Erkältung im März, die er sich bei der einwöchigen Tour Tirreno-Adriatico einfängt. „Die Erkältung habe ich dann ziemlich verschleppt.“
Statt eine Auszeit zu nehmen, startet Kämna vier Tage später beim Frühjahrsklassiker Mailand-San Remo. Es ist das längste Eintagesrennen im Kalender der Profis – 297 knüppelharte Kilometer, Kämna kommt als 105. ins Ziel, nach 7 Stunden und 23 Minuten auf dem Sattel. Fünf Minuten trennen ihn vom Sieger Vincenzo Nibali. „Da habe ich zu viel gewollt“, sagt Kämna. „Aber ich hatte keine Lust, das Rennen nicht zu finishen.“ Danach beginnt die körperliche Leidenszeit. Kämna liegt krank im Bett, dann trainiert er wieder und wird doch wieder krank. „Irgendwann kam ein Moment, an dem ich einfach nicht mehr in Schwung kam und extrem auf der Stelle rumgetreten bin“, sagt Kämna. „Ich habe einen Rückschlag nach dem nächsten bekommen, das kann man irgendwann nicht mehr ausgleichen im Training.“ Er braucht eine Pause.
Kämna spricht mit den Verantwortlichen von Sunweb, er ergreift die Initiative, die sportliche Leitung unterstützt ihn. Gemeinsam entscheiden sie, dass eine Auszeit das Beste ist. „Das war sehr fair vom Team, es hat mir viel Zeit gelassen, wirklich eine tolle Sache“, sagt er. Anfang April verlängert Kämna seinen Vertrag. Er findet es wichtig, bei einem Rennstall zu fahren, der ihn ernst nimmt, bei dem er langsam aufgebaut werden soll. „Es war schön, diesen Freiraum zu haben“, sagt Kämna. „Alles wurde abgesprochen, ich hatte viel Kontakt zur Teamleitung, aber dann gab es auch mal einen kompletten Break.“
Auszeit ohne Druck
Es ist nicht nur eine Pause vom Radfahren, das Team nimmt Kämna auch aus der Öffentlichkeit. Seit Ende März ist er kein Rennens mehr gefahren, im Juni erscheint eine Pressemitteilung: „Wir haben jahrelange Erfahrung in der Entwicklung junger Sportler und Menschen. Wir wissen, dass jeder Sportler in seiner Karriere an den Punkt kommt, wo er seinen Weg überdenken muss“, heißt es darin.
Danach ist Funkstille, das Team schottet Kämna ab. „Ich hatte nie den Gedanken aufzuhören“, sagt Kämna. Es sei ihm aber wichtig gewesen, keinen Zeitpunkt für die Rückkehr festzulegen. „Damit kein Druck aufkommt“, sagt er.
Eine harte Zeit? „Jein“, sagt er heute und legt den Kopf nachdenklich zur Seite. Am Anfang sei es schwierig gewesen, keine Rennen zu fahren, pausieren zu müssen, aber irgendwann habe er seine Auszeit richtig genießen können. „Ich habe einfach gemacht, was jeder gerne macht und ein ganz normales Leben geführt“, sagt er an diesem Spätsommertag im September. Unter den Gästen im Café sticht Kämna nicht hervor, in seinen engen Jeans und den weißen Sneakern sieht er so aus, als würde er ein Studentenleben führen. Nur sein schwarzes Shirt mit den Sponsoren seines Teams verrät, dass sich sein Leben um den Radsport dreht.
Als Kind stieg der Fischerhuder bei der Radrenngemeinschaft Bremen auf den Sattel, die Leidenschaft für das Rennrad haben ihm sein älterer Bruder und sein Vater weitergegeben. Lennard Kämna ist schon als Kind talentiert, mit 13 Jahren zieht er von Fischerhude ins Sportinternat nach Cottbus. Zahllose Rennen, stundenlanges Training: Der Sport dominiert seinen Alltag. Während andere Jugendliche um die Häuser ziehen, wird der damals 18-jährige Kämna 2014 Juniorenweltmeister. Vier Jahre später hat er während seiner Rennpause auf einmal Zeit. Er fliegt für eine Woche nach Thailand, legt die Beine am Strand hoch. Manche seiner Freunde aus Cottbuser Internatszeiten leben mittlerweile in Hamburg, Kämna fährt sie besuchen. Einfach abschalten, nicht über Radsport sprechen. Er verbringt Zeit mit seiner Familie und wohnt mittlerweile wieder in Fischerhude.
Schon im Herbst vor einem Jahr ist Kämna von Köln zurück in seine Heimat gezogen, zurück zu seinen Eltern. „Das war schon eine echte Umstellung“, sagt Kämna und lacht. Er lebt wieder in seinem Kinderzimmer; bevor es ein Jugendzimmer wurde, war er bereits ausgezogen. Auf den Strecken, die Kämna schon seit seiner Kindheit kennt, beginnt er ab Juli, sich wieder in Form zu fahren.
Wunsch nach Stabilität
Es ist sein zweites Jahr beim Team Sunweb, vorher war er ein Jahr beim mittlerweile geschlossenen Team Stölting. „Das zähle ich eigentlich nicht mit, da war ich auch im Kopf noch kein Profi“, sagt Kämna. Der Unterschied sei die professionelle Lebensweise. „Nach meiner Pause habe ich wirklich sehr engagiert und ehrgeizig trainiert“, sagt er. „Das war schon ein großer Unterschied zu meinem Training vor acht oder neun Monaten.“ Er vergleicht das Leben als Profi mit jemandem, der Schokolade liebt: „Man isst vielleicht gerne eine Tafel am Tag“, sagt er. „Aber dann kommt jemand und sagt: ‚Iss zwei Tafeln, iss drei Tafeln.‘“ Das sei auch mal lästig. Er habe gelernt, nicht immer auf 100 Prozent zu pushen, sagt er. „Dann wird es zu verkrampft.“ Wichtig sei die Gleichmäßigkeit, deswegen wünsche er sich für das kommende Jahr einfach eine stabile, solide Saison. Nach seinen Rennen bei der Weltmeisterschaft wird er noch beim Münsterland-Giro mitfahren, dann ist die Saison 2018 geschafft.
Kämna spricht nicht von einem verlorenen Jahr. Wenn überhaupt, dann habe ihn seine Form nach dem Comeback darin bestärkt, dass er auch nach einer schwierigen Phase stark zurückkommen kann. „Ich weiß, dass ich gut bin“, sagt er. Und: „Das Leben geht weiter, auch wenn‘s mal nicht so läuft.“