Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich 2022 zum 77. Mal. Zeitzeugen, die damals geflüchtet oder vertrieben wurden, sind mittlerweile weit über 80 Jahre alt. Umso wichtiger ist es, ihre Erinnerungen für die Nachwelt zu erhalten. Das weiß auch Günter Palm vom Heimatverein Eissel. Er hat in vergangenen Jahren einen riesigen Rechercheaufwand betrieben, sich durch die Archive gearbeitet, die inzwischen quer über die Republik verteilten Zeitzeugen aufgespürt und Interviews mit ihnen geführt. Das alles hat er in ein 305 Seiten starkes Buch mit dem Titel "Flüchtlinge und Vertriebene in Eissel" gegossen. An diesem Wochenende präsentiert er das Werk erstmals in Eissel, für den Sommer ist dann eine öffentliche Veranstaltung im Alten Schulhaus in Dauelsen geplant.
Die ersten Trecks kamen Anfang März 1945 in Eissel an. Unter ihnen war auch die Familie Pahl aus dem ehemaligen Westpreußen. "Einige Geschosse der russischen Maschinengewehre schlugen durch die Bretter unserer Scheune (...) und prallten an unserer Hauswand ab", erinnert sich der inzwischen 85-jährige Reiner Pahl aus Dauelsen. Und weiter: "Wenn das Geknatter der Maschinengewehre aufhörte, rannte unser Vater raus, um das Nötigste auf unserem Fluchtwagen zu verstauen und auch, um etwas auf die im Schnee brennende und zischende Munition zu werfen, sie so zu löschen. Er hatte sich ein Feder-/Oberbett um seinen Körper gebunden, um sich so vor den Brandgeschossen zu schützen. Eines der Pferde, das mein Bruder einspannen wollte, wurde getroffen und verendete. Wir alle hatten große Angst."
Auch die Erinnerungen von Lambert Riehl, der damals in Eissel gestrandet war und später im Landkreis München ein neues Zuhause fand, sind im neuen Buch von Günter Palm nachzulesen: "Auch nach der Oderüberquerung gingen wir wegen der Kälte meistens neben unserem Fuhrwerk." Nachdem er sich beim Aufspringen auf den mit einer Eisschicht bedeckten Leiterwagen verletzt hatte, musste seine Mutter den gebrochenen Zeh nach unten biegen und mit einem Verband fixieren. "Ich bin trotz starker Schmerzen hinter unserem Wagen hinterhergerannt", erzählt Riehl.
Heimat als dehnbarer Begriff
Um die Zeitzeugen ausfindig zu machen, hat Günter Palm im Schülerverzeichnis der ehemaligen Eisseler Dorfschule nachgeschlagen und im Kreisarchiv den sogenannten "Flüchtlingsfragebogen" ausgewertet. "Im Dezember 1948 lebten in Eissel 138 geflüchtete oder vertriebene Menschen bei gerade einmal 169 Einheimischen", erläutert Palm, welche "Mammutaufgabe" der Bürgermeister und die Dorfgemeinschaft damals zu bewältigen hatten.
Dass die Integration gelungen ist, Eissel es – wie Angela Merkel sagen würde – geschafft hat, zeigt die Geschichte der inzwischen verstorbenen Ursula Sobotta, zuletzt wohnhaft in Essen. Palm konnte sie noch für sein Buch "Flüchtlinge und Vertriebene in Eissel" befragen. Ihre Ankunft im "wunderschönen Raum" bei Familie Stührmann in Eissel schildert er darin wie folgt: "Wenn Brot gebacken wurde, (...) bekamen wir etwas ab. Mein Mann suchte sich eine Arbeit, bekam die in Verden an der Aller als Kellner. Nun hatte ich etwas Kraft, wir waren gut aufgehoben."
Aktuelles Thema
Wie erschreckend aktuell das Thema wieder geworden ist, zeigt sich gerade beim Blick auf die Geschehnisse in der Ukraine. Für die Buchpräsentation in Eissel haben sich zur großen Freude des Heimatvereins gleich mehrere Flüchtlingskinder und ihre Angehörigen angemeldet. Seinen neuesten Beitrag zur Eisseler Heimatgeschichte stellt Günter Palm am 23. Juni auf Einladung des Dokumentationszentrums Verden im 20. Jahrhundert (Doz 20) öffentlich im Alten Schulhaus in Dauelsen vor. Beginn ist um 18 Uhr.
Erst in den 1970er-Jahren besuchte Reiner Pahl seine frühere Heimat im heutigen Polen zum ersten Mal wieder. Niemand weiß so gut wie er, dass Heimat ein dehnbarer Begriff ist. Heute sagt er: "Ich bin hier groß geworden, ich fühle mich in Dauelsen zu Hause."
Das Buch "Flüchtlinge und Vertriebene in Eissel" ist zum Preis von 30 Euro über den Heimatverein (www.eissel.de) oder direkt bei Günter Palm erhältlich.