Frau Osigus, Sie sind in diesen Tagen viel an Schulen unterwegs. Wie erleben Sie die Jugendlichen, die in diesem Sommer erstmals bei der Europawahl ihre Stimme abgeben dürfen?
Wiebke Osigus: Kritisch, aufgeweckt, differenziert und reflektiert. Und vor allem sehr auf die eigene Lebenswirklichkeit bezogen. Ich bekomme ganz viele Fragen gestellt, die diese Jugendlichen direkt betreffen. Wie ist das mit dem Türkei-Griechenlandkonflikt? Wie ist das mit Gaza? Wie stehen meine Chancen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen?
Was bedeutet es für die Europawahl am 9. Juni, dass jetzt auch Jugendliche ab 16 wählen dürfen?
Das ist eine schöne Möglichkeit, die politischen Aktivitäten der jungen Menschen, die es ja sowieso schon gibt, in eine demokratische Stimme zu gießen. Ich halte es für wichtig, dass die Jugendlichen merken: Meine Stimme hat auch Einfluss. Außerdem beschäftigen sich die jungen Menschen mit den Positionen der Parteien. Genau diese inhaltliche Auseinandersetzung brauchen wir, denn es ist ja zum Teil ziemlich unreflektiert, was in den sozialen Medien wiedergegeben wird.
Was meinen Sie?
Wir könnten jetzt hier ein Handyvideo machen und erzählen, der Himmel ist lila. Das wird dann 30.000-mal geteilt. So entstehen Wahrnehmungen, so entstehen Wahrheiten, und so entsteht am Ende auch Geschichtsverzerrung. Das finde ich brandgefährlich.
Das klingt jetzt sehr dramatisch.
Ich gebe ihnen ein Beispiel: In der Fußballmannschaft meines Sohnes ging es neulich um Berliner Politik. Und ich habe dort gesagt: Leute, ich habe ein Bundesratsmandat, ich führe ein Ministerium und kann euch sagen: Es ist nicht so, wie dort dargestellt. Die Antworten waren: Aber ich habe das gegoogelt und ich zeig Ihnen das jetzt mal. Kurzum: Da kommen Sie so nicht gegen an. Einige finden es viel glaubwürdiger, wenn Mickymaus95 etwas postet, als wenn die Osigus da steht, die sowieso irgend so ein Parteigedöns macht.
Also hat Wiebke Osigus keine Chance gegen Mickymaus95?
Doch, aber ich finde, Mickymaus95 muss sagen: Ich heiße Karlchen Schmidt, wohne in diesem Ort, und wenn du Fragen hast, ruf mich an oder schreib mir eine Mail. Außerdem setze ich mich sehr dafür ein, dass es eine Möglichkeit gibt, diese Filmchen auf TikTok, Instagram, Facebook oder wo auch immer einzuordnen. Genauso wie es eine Ampel auf Lebensmitteln gibt, muss aus meiner Sicht bei so einem Film erkennbar sein, wer hinter dem Beitrag steckt. Ist das eine Privatperson, eine Partei, eine öffentliche Institution? Ich verstehe nicht, woher diese Lücke kommt zwischen dem, was du im Internet machst und dem echten Leben. Klarnamenpflicht und die Einordnung der Beiträge im Netz finde ich enorm wichtig. Ich muss doch auch dazu stehen, was ich gesagt habe.
Die AfD hat auf TikTok mehr Follower als alle anderen deutschen Parteien. Müssen die anderen aufpassen, dass sie den Zug nicht verpassen?
Ich glaube, wir sind schon fast zu spät dran, um auf TikTok etwas anzubieten. Aber es stellt sich auch noch die Frage des Formats. Wenn wir versuchen, uns da anzubiedern, wird es ganz schnell lächerlich.
Wie kann es dann gelingen, Jugendliche anzusprechen und für Europa zu interessieren?
Ich finde, wir müssen endlich mal von diesem sperrigen Politikersprech runterkommen. Am Ende des Tages beschäftigen sich die Jugendlichen erst mal mit sich selbst: Wie geht es mir? Was machen meine Freunde? Bekomme ich Likes im medialen Raum? Wenn dann einer mit Europa kommt, funktioniert das nicht. Ich muss einen emotionalen oder fachlichen Bezug herstellen. Das ist auch ein Auftrag an die Politik. Das gilt auch übrigens auch für andere Themen, etwa die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Lass die Finger davon, ich weiß es besser. Das hat noch bei keiner Generation funktioniert.
Was könnte diese Verbindung zwischen der EU und dem Leben der Jugendlichen sein?
In meiner Generation war das der Wegfall der Passkontrollen, diese grenzenlose Freiheit. Heute ist es vielleicht die duale Ausbildung, die Anerkennung von Abschlüssen innerhalb Europas. Aber wichtig ist auch ganz Elementares wie die europäische Sicherheitsarchitektur. Sie bedeutet nichts anderes als: Dein Leben und Deine Freiheit sind beschützt durch 26 Freunde, die mit uns unterwegs sind. Das müssen wir erklären. Es gibt immer wieder Forderungen, in den Schulen praxisnahes Wissen zu vermitteln, zum Beispiel wie man eine Steuererklärung macht. Genau solche Überlegungen braucht es auch für Europa.
Die heute 16-Jährigen kennen die D-Mark nur aus Geschichtsbüchern. Die offenen Grenzen sind für sie selbstverständlich. Blickt die Jugend anders auf Europa als die Elterngeneration?
Da bin ich mir sicher. Deshalb müssen wir ja auch aufpassen, dass wir keine Politik des erhobenen Zeigefingers machen. Wir dürfen nicht einfach die Decke mit den Sternen über alles legen und sagen: Selbstverständlich ist alles toll in Europa. Wir müssen klar sagen, was die Vorteile sind: Ohne Europa würden sich die Freiheiten einschränken, unserer Sicherheitsgefüge würde auseinanderbrechen. Genauso müssen wir aber auch ehrlich über die Dinge diskutieren, die in Europa nicht gut funktionieren.
Das Gespräch führte Felix Gutschmidt.