Für Achim ist es eine Ausnahmesituation: 1700 Menschen müssen am Pfingstmontag ihre Häuser verlassen, die Polizei sperrt Hauptverkehrsstraßen ab, und nicht einmal die Autobahn 27 wird zwischen dem Bremer Kreuz und der Anschlussstelle Achim-Ost befahrbar sein, wenn die Suche nach zwei auf der Erweiterungsfläche der Gasunie in Achim-Embsen vermuteten Weltkriegsbomben beginnt. Die Brandschützer in Achim und Embsen werden an diesem Tag zu ihren Feuerwehrhäusern kommen. Auch das Rettungszentrum Nord sowie der Gefahrgutzug des Landkreises Verden müssen sich etwas einfallen lassen, wie sie ihre Bereitschaft am 9. Juni organisieren wollen, denn ihre Zentralen liegen ebenfalls im Sperrgebiet von gut einem Kilometer rund um die beiden Verdachtsstellen.
Seit Monaten bereiten sich Stadtverwaltung, Blaulichtdienste und das Technische Hilfswerk auf diesen Tag vor. Zwar hat es auch in der Vergangenheit Funde von Bomben, Granaten und anderen Kampfmitteln in Achim gegeben. Doch die Dimensionen des nun geplanten Einsatzes fallen größer aus als bei vergangenen Ereignissen. Zuletzt war im April 2021 bei Bauarbeiten in Uphusen 25 Kilo schwere Granate in Uphusen entdeckt worden. Kurzfristig mussten daraufhin rund 500 Menschen in einem Umkreis von 300 Metern in Sicherheit gebracht werden. Zwischen der Entdeckung, der Räumung und der kontrollierten Sprengung vergingen damals nur wenige Stunden.
Im Juni 2020 entschärften Experten vom Kampfmittelbeseitigungsdienst (KBD) des Landes erfolgreich eine amerikanische Fliegerbombe auf einem Acker in Bollen. Damals mussten im nicht eben dicht besiedelten Ortsteil gerade einmal 25 Bewohner, ein Jogger und ein Hund aus dem theoretisch gefährdeten Bereich hinausgebeten werden – kein Vergleich also zu dem, was am 9. Juni ansteht.
Bombenentschärfung alle paar Wochen
Was für die Achimer ein seltenes Ereignis darstellt, ist für die Fachleute im Dienst des Landes Niedersachsen nahezu alltäglich. Alle paar Wochenenden gebe es vergleichbare Einsätze, sagt Sprecherin Jessica Schönewolff. Der vom KBD empfohlene Sicherheitsradius von 1000 Metern rund um die Fundstellen und der Plan, die Stellen, an denen die Blindgänger vermutet werden, fast vollständig mit einer Burg aus mit Wasser gefüllten Containern zu umschließen, all das sei "mittlerweile Standard", sagt Schönewolff. Bei der Planung eines Einsatzes gehe der KBD immer vom schlimmsten Fall aus, um "größtmögliche Sicherheit" für die Bevölkerung zu gewährleisten.
Bei den meisten der jährlich weit über 1000 Einsätze der niedersächsischen Kampfmittelexperten handelt es sich um kleinere Funde, etwa Munitionsreste. Doch auch die sogenannten Großkampfmittel mit einem Gewicht von mehr als 50 Kilogramm sind keine Seltenheit. 157-mal rückte der KBD nach eigenen Angaben 2023 wegen solcher Funde aus. Seit 2017 haben die Kampfmittelbeseitiger in Niedersachsen jedes Jahr mehr als 100 Tonnen an Munition, Granaten und Bomben sichergestellt. Auch 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist ihre Arbeit noch lange nicht beendet.
Die Bomben, die bis heute in Achim unter der Erde begraben sind, dürften vor allem auf die Luftangriffe auf das benachbarte Bremen und die umliegenden Flugabwehrstellungen durch britische und amerikanische Streitkräfte zurückzuführen sein. Im Achimer Geschichtsheft Nummer 26 hat Lokalhistoriker Reinhard Dietrich die Bombenentschärfung in Bollen zum Anlass genommen, die Angriffe auf die Hansestadt während des Zweiten Weltkriegs genauer zu beschreiben. Demnach zählte die Luftpolizei 173 Luftangriffe, bei denen insgesamt knapp 900.000 Bomben abgeworfen worden sind.
Begleitet wurden die Luftschläge von Aufklärungsflügen. Die jeweils vor und nach den Angriffen entstandenen Luftbilder bilden heute die Grundlage für die Arbeit der Kampfmittelbeseitiger. Im aktuellen Fall hat der KBD in die Archive geschaut, weil das Unternehmen Gasunie Versorgungsleitungen zur Verdichterstation in Achim-Embsen verlegen will. Bei der Sichtung der alten Bilder seien nicht nur Krater an den Stellen gefunden worden, an denen Bomben explodiert sind, sondern auch schwarze Punkte, die auf Blindgänger hindeuten könnten, erklärt Sprecherin Schönewolff. Eine Räumfirma habe daraufhin die Stellen vor Ort genauer untersucht und festgestellt, dass dort tatsächlich etwas unter der Erde liegt. Es gilt als ziemlich sicher, dass es sich tatsächlich um Blindgänger handelt. "Aber man weiß nicht: Ist das eine kleine oder eine große Bombe?", sagt Schönewolff. "Was ist es für ein Zünder?" All das müssen die Experten am 9. Juni herausfinden.