Eine Talk-Show mit schrillen Moderatoren und nervigem Jingle, ausgestrahlt zur besten Sendezeit, verspricht Freunden wie Feinden der Royals intimste Einblicke in die Familiengeheimnisse und Intrigen am königlichen Hof: Das ist Hamlet 2022. Die ungewöhnliche Idee von Ayla Yeginer gibt dem Ensemble des Theaters für Niedersachsen (TFN) viele Vorlagen für große Bühnen-Action, führt jedoch immer wieder ziemlich weit ab von Shakespeares Klassiker.
Vor Beginn des Stückes wurde das Publikum über den Ausfall des Hauptdarstellers informiert: Lukas Hanus, eigentlich als Laertes aufgestellt, übernahm die Rolle, und da er sie nicht hatte einstudieren können, musste er wie auch der neue Laertes (als Externer eingesprungen: Ben Philip Fricke) seine Texte teilweise vom Blatt sprechen. Doch diese Herausforderung löste Hanus so meisterhaft, dass er am Ende Jubelrufe und enthusiastischen Beifall kassierte.
Ins warme königliche Bett
Besonders spannend für die Moderatoren Rosenkranz (Jeremias Beckford) und Güldenstern (Nina Carolin): Wie steckt Hamlet es weg, dass sein Vater noch kaum unter der Erde ist, als seine Mutter schon dessen Bruder Claudius in das noch warme königliche Bett holt?
Auch die ziemlich gestörte Liebesgeschichte zwischen dem Prinzen und Ophelia (Melanie Sidhu) wird unter die Lupe gezerrt. In modischen Glamour gekleidet, breitet die aufgeregte Teenagerin ihre Liebesgeheimnisse wie ein C-Sternchen aus, und Laertes, voll im Trend der Zeit als etwas schmieriger, sich selbst überschätzender Macho agierend, darf die Liebe des Prinzen ganz öffentlich als Fake denunzieren.
Das sensationslüsterne Insistieren des professionell nervigen Moderatorenteams bringt das Königspaar Claudius (Martin Schwartengräber) und Gertrud (Linda Riebau) an seine Grenzen: Mit ihren unaufrichtigen Worthülsen machen die zunehmend in Bedrängnis geratenden Highest-Society-Gäste ihre skrupellose Eile, den alten König zu vergessen, nicht verständlicher, und Prinz Hamlet rastet vor laufender Kamera aus: Cut, Unterbrechung der Show.
Zentrales Abiturthema
Das Drama um den dänischen Königssohn wird im Jahr 2023 eines der zentralen Abiturthemen sein, sodass mehrere Schulklassen zum Auftakt des Verdener Theater-Abonnements mit einer überraschend anderen Inszenierung konfrontiert waren. Anstelle der als Prolog zu verstehenden Wächterszene vor Schloss Helsingör gibt es einen Video-Call zwischen den umtriebigen Moderatoren und dem Königspaar. Der Prinz erzählt vom Vatermord durch eine "fucking Schlange in Dänemark"; auf einer Metall-Walze reitend, lässt er den Spruch "Ein Pferd, ein Pferd" ab, singt Ophelia in der Szene, in der er sie von sich stößt, den Ärzte-Song "Männer sind Schweine" vor. Aus dem Off ertönt sein "To be or not to be", hinter einer schwarzen, durch Lichtprojektion hingezauberten Wand erscheint dann Hamlets weiße Silhouette; die Theaterszene bestreitet er mit einer aufgesetzten roten Nase und großartiger Pantomime. Alles sehr anders, alles sehr unterhaltsam.
Im Zeitraffer erfolgen Claudius' niedergeschmetterter Reue-Monolog, die Tötung des im Kabinett verborgenen Polonius und Hamlets bittere Anklage gegen die Mutter, die sich damit verteidigt, von ihrem Gatten 30 Jahre lang nicht angerührt worden, sondern nur seine "Hamlet-Maschine" gewesen zu sein.
Am Domgymnasium soll die Tragödie demnächst in englischer Sprache gelesen werden. Auch Sabine Struß war mit ihrem Englischkurs hier. "Ich glaube, sie haben es klassischer erwartet", sagte sie in der Pause. "Ich selbst hadere ein bisschen. Ich mag moderne Inszenierungen, aber wenn sie zu sehr um die Ecke gebogen sind, ist es etwas anstrengend." Auch Domgymnasiastin Annalena Niebuhr (18), die das Stück vorher nicht kannte, war skeptisch: "Wir hätten es lieber pur gehabt", meinte sie. "So ist es teilweise sehr schwer verständlich." Rieke Jägger (20) war anderer Meinung: "Das ist eine interessante Methode, um zu verstehen, wie die Personen im Stück zueinanderstehen." Allerdings könne auch sie nicht immer erkennen, "was zu Shakespeare gehört und was nicht".
"Wie moderne Kunst"
Manch ein Platz blieb nach der Pause leer. Dafür hatte der Verdener Karl-Ulrich Heydn kein Verständnis: "Solch eine Inszenierung ist wie moderne Kunst, ich lasse mich einfach darauf ein und warte, was passiert."
Für die beiden letzten Akte wird das Vehikel der Talkshow verlassen; die Texte sind nun so stark gerafft, dass die Zuschauer gedanklich von Szene zu Szene recht weit zu nicht leicht zu identifizierenden Schauplätzen springen müssen. Das Mordkomplott zwischen Claudius und Laertes oder Ophelias wahnsinnige Gesänge rasen nur so über die Bühne. Dann ist die Königin stockbesoffen und bleibt in einer Türfüllung stecken. In einem lallenden, von halb verrücktem Gelächter begleiteten Singsang malt sie Ophelias Tod wie eine groteske Anekdote aus. Kurz vor dem Duell hält der Totengräber bei einer Brotzeit neben Ophelias Grab ein gemütliches, etwas deplatziert wirkendes Plauderstündchen. Das Duell ist ein einziges Chaos, Geschrei, wildes Gesteche in die Luft, Laertes und Hamlet schneiden sich sicherheitshalber selbst die Pulsadern auf, noch ein Stich hier und ein Schuss dort und alle sind tot.
Die mehlweiß gekleidete Reporterin betritt die grausliche Szene zu einem deprimierten Abspann – und dann gibt der begeisterte Beifall des Publikums der eigenwilligen Inszenierung recht.