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Bewusstsein schaffen Das Autismus-Spektrum hat viele Facetten

Um mehr Verständnis für Autismus zu entwickeln, haben die Vereinten Nationen den Welt-Autismus-Tag ins Leben gerufen. Er findet jedes Jahr am 2. April statt. Doch was ist Autismus überhaupt?
31.03.2023, 16:50 Uhr
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Das Autismus-Spektrum hat viele Facetten
Von Lina Wentzlaff

Den Begriff "Autismus" verbinden viele Menschen mit Personen, die trotz hohem Intellekt Schwierigkeiten haben, soziale Beziehungen aufzubauen. Dabei ist das Autismus-Spektrum sehr vielseitig. Um Vorurteile und Klischees abzubauen, soll der Welt-Autismus-Tag am 2. April dienen. Der Gedenktag wurde von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen und soll die Aufmerksamkeit auf die Lebenssituation von Autisten und ihr Umfeld richten – auch im Landkreis Verden.

Was bezeichnet die Autismus-Spektrum-Störung? "Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung", erklärt Katrin Schmitt vom Verein Autismus Bremen, der auf dem Hof Meyerwiede in Langwedel-Etelsen ein Angebot für Betroffene bietet. Häufig bezeichnet man Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken.

Wie viele Formen von Autismus gibt es? Es wird zwischen drei Ausprägungen von ASS unterschieden: frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. "Die Unterscheidung fällt in der Praxis jedoch immer schwerer, da zunehmend leichtere Formen der einzelnen Störungsbilder diagnostiziert werden", berichtet Claudia Grieger von der Autismus-Ambulanz der Lebenshilfe Rotenburg-Verden. Ganz nach dem Motto: "Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten." Daher werde aktuell der Begriff der "Autismus-Spektrum-Störung" als Oberbegriff für das gesamte Spektrum autistischer Störungen verwendet.

Was sind klassische Anzeichen für ASS? Die meisten Menschen mit ASS leiden unter einer Reizfilterschwäche, erklärt Claudia Grieger. "Das heißt konkret, dass ihr Gehirn Reize anders verarbeitet." Eine schnelle Reizüberflutung – beispielsweise durch Gerüche, Berührungen, Lautstärke, Licht oder durch intensive Detailwahrnehmung – erschwert ihren Alltag. So kann es sein, dass alltägliche Situationen für Menschen mit ASS schnell zur Herausforderung werden und sie den Betroffenen viel mehr Energie kosten. "Eine veränderte Wahrnehmung bedeutet nicht gleichzeitig eine geistige Beeinträchtigung", betont Katrin Schmitt.

Einige Betroffene haben zudem Schwierigkeiten in der Kommunikation und in der sozialen Interaktion. "Bei Menschen mit Autismus fehlen häufig lebenspraktische Fähigkeiten, die für Menschen ohne ASS als ganz 'normal' gelten, wie die Nahrungsaufnahme, tägliche Hygiene und Einkaufen", erklärt die Koordinatorin der Autismus-Ambulanz.

Wo gibt es Hilfe für Betroffene im Landkreis Verden? Besteht der Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung, ist es wichtig, bei einer kinderpsychiatrischen Praxis, einem sozialpädiatrischen Zentrum oder einer entsprechenden Abteilung einer Klinik diesen Verdacht überprüfen zu lassen. "Eltern spüren meistens sehr früh, dass ihr Kind irgendwie anders ist", weiß Claudia Grieger. In der Autismus-Ambulanz der Lebenshilfe in Rotenburg wird keine Diagnostik erstellt. "Wir vermitteln aber Kontakte zu Ärztinnen und Ärzten sowie Therapeutinnen und Therapeuten, die eine anerkannte Diagnose stellen können."

Nach einer erfolgreichen Diagnose können die betroffenen Familien sich an den Landkreis wenden und einen Schwer-Behinderten-Ausweis sowie einen Nachteilsausgleich bekommen. Der Landkreis Verden arbeitet nach eigenen Angaben mit verschiedenen Trägern und Institutionen zusammen, die sich um Menschen aus dem Spektrum kümmern.

Eine davon ist der Hof Meyerwiede. Das Gelände in Etelsen ist ein Ort zum Leben und Arbeiten für erwachsene Menschen mit ASS. Ziel des Angebotes ist es, den erwachsenen Menschen mit ASS einen Rahmen und die notwendige Unterstützung und Förderung zu bieten, damit diese so weit wie möglich ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen können, berichtet Katrin Schmitt. Dafür bietet das multiprofessionelle Team verschiedene Arbeitsbereiche an. "Denn die Berufstätigkeit spielt in unserer Gesellschaft eine große Rolle. Sie bestimmt maßgeblich das Prestige und ist für die Definition der eigenen Person wichtig", betont Schmitt. "Dies gilt auch oder vielleicht besonders für Menschen mit einer Behinderung." Die Arbeit sei dabei nicht gewinnorientiert ausgerichtet, der Fokus liege vielmehr auf der persönlichen Förderung des einzelnen Beschäftigten. Insgesamt gibt es drei Wohneinheiten auf dem Hof mit insgesamt 20 Bewohnern sowie zwei separaten Wohneinheiten.

Zur Sache

Unterstützung in der Gemeinschaft

Achim. Wenn ein Mensch in einem Rollstuhl vor einer Treppe steht, ist die Barriere, auf die er trifft, für seine Umgebung klar. Zeigt ein Mensch mit Autismus Schwierigkeiten in alltäglichen Szenarien, gilt er oft als unerzogen oder sozial schwierig. Denn die Behinderung im Alltag nimmt die Gesellschaft oftmals kaum wahr, berichten die Teilnehmer des Stammtisches Autismus für den Landkreis Verden und umzu. Eins vereint sie alle: Sie sind Eltern von Kindern mit Autismus und haben schon viele Auf und Abs hinter sich.

Seit 2015 treffen sie sich deswegen in regelmäßigen Abständen, tauschen sich aus und sammeln gemeinsam Kraft für den nicht immer so einfachen Familienalltag. "Das Gute an der Gruppe ist, dass jeder etwas weiß und wir uns so vernetzen können", betont Organisatorin Barbara Kramer. Als ihr Sohn selbst vor rund acht Jahren die Diagnose Autismus bekam, suchte sie Kontakt zu anderen betroffenen Familien. Über eine Praxis bekam sie die Daten anderer interessierter Eltern. "Daraus hat sich die Gruppe entwickelt", erinnert sie sich.

Insgesamt 70 Personen vereint die Selbsthilfegruppe aktuell. "Und es gibt extrem viel Neuzulauf", beobachtet Barbara Kramer. Manche kommen für den Austausch sogar extra aus den Landkreisen Oldenburg, Diepholz, Heidekreis oder Rotenburg bis nach Achim. Denn es gebe viel zu wenig Angebote für Angehörige von Betroffenen, erzählen sie. Ihre Kinder stehen an ganz verschiedenen Punkten im Leben. Manche haben erst vor kurzem Autismus diagnostiziert bekommen, andere haben schon diverse Therapien hinter sich und leben teilweise in Internaten. Denn das hiesige Schulsystem kann sie aufgrund der Strukturen oftmals nicht berücksichtigen.

Viele der Betroffenen hatten einen langen Weg bis zur Diagnose. Gerade in den ersten Jahren sei es nicht einfach, im Alltag erahnte oder auch beobachtete Auffälligkeiten so zu beschreiben, dass sie sich durch Fachleute richtig einordnen lassen. Manche Betroffene erhalten mehrere Diagnosen, bis sie endlich bei ASS landen.

Nach einer erfolgreichen Diagnose können die betroffenen Familien einen Schwer-Behinderten-Ausweis sowie einen Nachteilsausgleich bekommen. Mit ein wenig Glück gibt es sogar eine Schulassistenz und einen der wenigen Therapieplätze. Doch oftmals reiche das nicht, bemängeln die Mitglieder des Stammtisches. Sie vermissen den Dialog auf Augenhöhe, fühlten sich oft nicht ernst genommen und ungerecht behandelt – sei es in der Schule, bei Behörden oder auch von eigenen Verwandten.

Von der Gesellschaft zeige sich viel Unwissen über das Krankheitsbild – auch bei den zuständigen Landkreisen. Von der hiesigen Politik wünschen sie sich mehr Analyse der aktuellen Situation und bessere Lösungen, gerade in Bezug auf den Bildungssektor. Funktionieren könne dies aber nur mit Fachpersonal, das über die verschiedenen Behörden hinaus zusammenarbeitet und vor allem Inklusion lebt. Genau das wünschen sich die Familien auch von der Gesellschaft: mehr Verständnis für andere Denkweisen. "Denn Autisten sind die, die es anders machen", sagt ein Vater. Und genau das werde in der Gesellschaft gebraucht.


Der Stammtisch Autismus trifft sich das nächste Mal am Mittwoch, 26. April, im Achimer Kasch, Bergstraße 2. Weitere Informationen zu der Arbeit der Selbsthilfegruppe gibt es auch im Internet unter www.stammtisch-autismus.info.

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