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Nächtliche Aktion Familie aus Lemwerder abgeschoben

Die nächtliche Abschiebung einer armenischen Familie aus Lemwerder hat tiefe Spuren hinterlassen. Der Familienvater beschreibt das Erlebnis als traumatisch. Auch Unterstützer in der Gemeinde sind erschüttert.
26.01.2024, 19:06 Uhr
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Familie aus Lemwerder abgeschoben
Von Barbara Wenke

Diese Nacht wird Edvard K. nie vergessen. Die Abschiebung seiner Familie aus Lemwerder, auf die sie nicht vorbereitet gewesen sei, beschreibt der Familienvater als traumatisches Erlebnis.

Polizisten und ein Vertreter der Ausländerbehörde sind seinen Worten zufolge am 9. November gegen drei Uhr morgens in seine Wohnung in der Eschhofsiedlung eingedrungen und haben den Familienvater, seine Frau Mariam und die beiden kleinen Töchter aus dem Schlaf gerissen. So berichtet es Edvard K. in einem Brief an seinen Anwalt und an eine Gruppe Lemwerderaner, die der armenischen Familie helfen möchte. Diese war im Dezember 2021 aus der Bürgerkriegsregion Berg-Karabach nach Deutschland geflüchtet.

"Abschiebungen gibt's dauernd", sagt Jochen Dallas, Pastor der evangelischen Kirchengemeinde Altenesch-Lemwerder. "Aber solch eine Aktion habe ich noch nicht erlebt." Die Pressestelle des Landesinnenministeriums und der Polizeiinspektion Delmenhorst/Oldenburg-Land/Wesermarsch konnten am Freitagnachmittag keine Stellungnahmen mehr abgeben.

Starker Integrationswille

Freunde und Bekannte von Mariam und Edvard K. sind schockiert. "Die Familie war äußerst engagiert", sagt Janine Claßen, die Mariam K. aus dem Kindergarten kennt. Kein Elternabend, keine Kita-Veranstaltung, die die Mutter verpasst hätte. Des Weiteren unterstützte sie ehrenamtlich Schwimmkurse als Aufsichtsperson.

Zudem war die ausgebildete Lehrerin frühzeitig auf der Suche nach Arbeit. "Mariam wollte im Nachmittagsbereich am Gymnasium tätig zu werden", weiß Claßen, die den Lemwerderaner Unterstützerkreis initiiert hat. Allerdings habe die Geflüchtete nie eine Antwort von der zuständigen Schulbehörde bekommen.

"Sie haben auf eigene Initiative in kürzester Zeit Deutsch gelernt", berichtet Claßen. Von dem Engagement der beiden Schutzsuchenden schwärmt auch Ingelore Achenbach. Die 87-Jährige hatte Mariam und Edvard K. in einem Deutschkursus in der Begu kennengelernt. "Ich fand die beiden damals so toll und engagiert, dass ich ihnen spontan angeboten habe, sie privat bei mir zu Hause zu unterrichten."

Von dem Lerntempo der beiden Armenier, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die in Deutschland deshalb nur geduldet waren, ist die ehemalige Pädagogin fasziniert. Den Brief an seinen Anwalt habe der Familienvater alleine verfasst und ihr dann zugeschickt, so Achenbach. Sie habe lediglich kleine grammatikalische Fehler korrigiert.

Arbeit in Aussicht

Mariam K. hatte laut Claßen mittlerweile einen Arbeitsvertrag mit einem Träger für Kinder und Jugendhilfe in Vegesack geschlossen. Ehemann Edvard habe eine Stelle als Koch in Aussicht gehabt. Außerdem habe er Nachbarn bei körperlich schweren Arbeiten geholfen.

Die beiden Töchter waren sportlich in der Gemeinde aktiv. "Die ältere habe ich öfter an der Jule getroffen, wo ich ehrenamtlich arbeite", fasst Claßen die Verbundenheit der Familie mit dem Ort zusammen.

In seinem Brief an den Anwalt berichtet Edvard K.: "Ich weiß nicht wie, aber sie hatten einen Schlüssel zum Haus und unserer Wohnung." Der Familie seien wenige Minuten eingeräumt worden, die wichtigsten Utensilien zusammenzupacken. Ihre Handys mussten die beiden Armenier nach eigenen Angaben abgeben. So konnte die Familie weder ihren Rechtsanwalt noch den Pastor informieren.

"In den Morgenstunden kam Edvards Vater, der gerade in Lemwerder zu Besuch war, bei uns an die Tür. Ich hab mich sofort ans Telefon gesetzt. Aber da war nichts mehr zu machen", erinnert sich Jochen Dallas. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Beamten die Familie bereits zum Hamburger Flughafen gebracht und in einen Flieger gesetzt.

Ohnmachtsanfall am Flughafen

Allerdings nicht ohne weitere Aufregung. Aufgrund des Stresses sei seine Frau am Flughafen mit einer Panikattacke und schwerer Atemnot in Ohnmacht gefallen, berichtet Edvard K. seinen Unterstützern. "Die Kinder mussten das alles mit ansehen."

Der Gesundheitszustand des Familienvaters, der im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan seelische Traumata erlitten und deswegen in Deutschland mit einem Psychologen und einem Psychiater gearbeitet hatte, hat sich nach eigener Aussage wieder verschlechtert. Im Moment sei die Familie in Armenien. Ein Land, das ihnen keine Heimat sei. Edvard K. schreibt: "Wir haben kein Zuhause, keine Arbeit, kein Geld und keine Unterstützung, weil wir im Krieg um Berg-Karabach unsere Heimat, unser Haus, unsere Arbeit und unser gesamtes Eigentum verloren haben."

Zur Sache

Lemwerderaner Bürgerbündnis will helfen

In Lemwerder formiert sich Protest gegen die Abschiebung der armenischen Familie K. Anfang November. "Die Familie wurde nicht durch ein Schreiben auf die Abschiebung vorbereitet und befindet sich nun vollkommen mittellos in Armenien", schreibt Janine Claßen vom jüngst gegründeten Bürgerbündnis "Lemwerder hilft – Unterstützung für Mariam und Edvard".

Durch die nächtliche Abschiebung sei eine weitere Traumatisierung der vom Bürgerkrieg in Berg-Karabach gezeichneten Familie in Kauf genommen worden. "Es wurde mit unangemessener Härte vorgegangen. Die Menschen wurden wie Kriminelle behandelt", so Claßen. Was die Unterstützer aus Lemwerder am meisten schockiert: "Das ist nicht irgendwo passiert. Das ist in unserem Dorf geschehen."

Selbst wenn die Abschiebung durch geltendes Recht gedeckt werde, was noch nicht vollumfänglich geklärt sei, "möchten wir gegen diese Abschiebung protestieren", schreibt Janine Claßen in einer Mitteilung an die Presse. "Wir fordern: Einen sofortigen Stopp von Abschiebungen ohne Ankündigung mitten in der Nacht – insbesondere wenn es sich um Familien mit kleinen Kindern handelt. Und eine unabhängige Prüfung, ob die Abschiebung der Familie K. rechtmäßig war."

Um die derzeit mittellose Familie in Armenien zu unterstützen, hat das Bündnis eine Spendenkampagne initiiert. Bis Freitagmittag waren auf diesem Weg bereits mehr als 5200 Euro an Unterstützung für Mariam und Edvard K. zusammengekommen.

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