„Sie sitzt und kommt mit dem Notarzt?“ Die Frau hinter dem Tresen der Notaufnahme im Vinzenz-Krankenhaus in Hannover zieht die Augenbrauen nach oben. Ihr Blick richtet sich auf eine Frau im Rollstuhl, die gerade von einem Rettungssanitäter in Richtung Tresen geschoben wird. Die kurzen Haare sind frisch gekämmt, zu einer blauen Bluse trägt sie eine beige Stoffhose. Es ist kurz vor neun Uhr morgens, schon eine Handvoll Patienten wartet in der Klinik auf ihre Behandlung.
Im vergangenen Jahr kamen in Hannover 1000 Patienten mehr in die Notaufnahme als noch im Vorjahr. Bundesweit hat sich die Patientenzahl in den Notaufnahmen nach Angaben der Bundesärztekammer zwischen 2005 und 2015 verdoppelt. Im Kreiskrankenhaus in Osterholz-Scharmbeck ist die Zahl der Notfälle im gleichen Zeitraum sogar um 68 Prozent gestiegen. Im Bremer Klinikum Mitte sind die Patientenzahlen in der Zentralen Notaufnahme von 22.000 im Jahr 2012 auf über 36.000 im vergangenen Jahr angestiegen. Deutschlandweit werden mittlerweise 25 Millionen Patienten pro Jahr in der Notfallversorgung behandelt.
Jeder vierte Notaufnahme-Patient muss nicht dringend behandelt werden
„Viele Patienten wählen Nummer 112, weil sie etwa seit drei Wochen Rückenschmerzen haben“, erzählt der Ärztliche Direktor am Vinzenz-Krankenhaus, Jens Albrecht. 25 bis 30 Prozent der Fälle in der Notaufnahme gehörten eigentlich zu einem niedergelassenen Arzt – doch da dauert es oft, bis man einen Termin bekommt. Der Osterholzer Krankenhausleiter Klaus Vagt erklärt: „Der Landärztemangel führt letztlich zur Überlastung der Notfallambulanzen in den Kliniken.“ Nach dem Wegfall der Praxisgebühr habe sich die Situation noch einmal verschlechtert.
Die Verdachts-Diagnose der Rollstuhl-Patientin: Innere Blutungen im Lungenraum. Die alte Dame war am Morgen zu ihrer Ärztin gegangen, weil sie starke Schmerzen beim Atmen hatte. Die Medizinerin rief umgehend die 112. Als Rettungswagen und Notarzt eintreffen, hat sich der Zustand der Frau bereits stabilisiert. Sie versucht sogar, einen Witz zu machen, als ein Assistent sie durch den Regen schiebt. „All diese Menschen sind nur für mich da“, sagt sie. „Das All-Inclusive-Paket“, erwidert der Assistent. Doch ab wann ist ein All-Inclusive-Paket gerechtfertigt? Und was sind die Konsequenzen daraus, wenn immer mehr Menschen statt zum Hausarzt zu gehen die 112 wählen? Der Notarzt, der kommt, trifft die erste Entscheidung, ob Eile geboten oder der Weg in die Notaufnahme überflüssig ist.
„Wenn der Patient erstmal hier ist, dann helfen wir natürlich“
„Vor Ort müssen wir sehen, ob es notwendig ist, den Patienten in die Notaufnahme zu begleiten“, sagt ein 46-jähriger Notarzt, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Aber wir müssen immer vom schlimmsten ausgehen. Es kann ja sein, dass sich der Zustand des Patienten auf der Fahrt akut verschlechtert.“ Bei der alten Dame im Rollstuhl habe er sich bereits mit dem Skalpell im Rettungswagen gesehen, um der Frau die Brust zu öffnen.
Die zweite Entscheidung trifft die Notaufnahme: Wird ein eintreffender Patient stationär aufgenommen, ambulant behandelt oder zum Hausarzt geschickt? Um das zu entscheiden, muss jeder Patient zumindest kurz gecheckt werden. „Wenn der Patient erst einmal hier ist, dann helfen wir natürlich“, erklärt der Osterholzer Klinikchef Klaus Vagt.
Notrufnummer 116 117 ist zu wenig bekannt
„Es hat sich in den letzten Jahren immer mehr gezeigt, dass die Patientinnen und Patienten mit den Füßen abstimmen“, sagte der Verbandsdirektor der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft, Helge Engelke. „Die Notaufnahme im Krankenhaus ist nach wie vor die Anlaufstelle Nummer eins.“ Um für Entlastung zu sorgen, hatte ein bundesweiter Ausschuss aus Kassenärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern beschlossen, dass seit April diejenigen Patienten, die keine echten Notfälle sind, an niedergelassene Ärzte weitergeleitet werden.
Ein halbes Jahr nach Einführung dieses neuen Systems gibt es dazu erste positive Einschätzungen. Im Kinder- und Jugendkrankenhaus Auf der Bult in Hannover sagt Sprecher Björn-Oliver Bönsch, eine Verringerung der Patientenzahl sei spürbar, auch wenn es noch Zeit brauche, bis sich die neuen Regeln herumgesprochen hätten. Der Großteil der Eltern sei nach einer ersten Untersuchung beruhigt und zeige Verständnis für die Weiterleitung zu einem niedergelassenen Arzt.
Auf dem Land sei das jedoch nicht so einfach, erklärt Klaus Vagt. Zu lang seien die Wartezeiten in den Landarztpraxen, zu wenig bekannt sei die Notrufnummer der niedergelassenen Ärzte (116 117). Vor allem aber glaubten viele, dass sie im Krankenhaus besser behandelt werden, weil dort die Fachärzte seien, sagte Vagt.