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Reportage Das große Stechen - Erntezeit auf dem Spargelhof

Auf dem größten Spargelhof Norddeutschlands werden pro Saison 5000 Tonnen Spargel geerntet. Dahinter steckt eine aufwändige Logistik - und der Fleiß von Mitarbeitern unterschiedlichster Nationalität.
12.04.2017, 17:48 Uhr
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Das große Stechen - Erntezeit auf dem Spargelhof
Von Jan Oppel

Auf dem größten Spargelhof Norddeutschlands werden pro Saison 5000 Tonnen Spargel geerntet. Dahinter steckt eine aufwändige Logistik - und der Fleiß von Mitarbeitern unterschiedlichster Nationalität.

Seit fünf Jahren fährt Gabi-Florin Pascu im April mit dem Bus von der rumänischen Provinz in die deutsche. Einen Tag und eine Nacht dauert die Reise ins niedersächsische Kirchdorf. Hier arbeitet der 28-Jährige auf dem Spargelhof von Landwirt Heinrich Thiermann als Erntehelfer. Acht Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche, zweieinhalb Monate pro Jahr.

Kilometerlang ziehen sich die in Plastikfolie verpackten Erdwälle bis zum Horizont. Mit 480 Hektar Anbaufläche ist Thiermanns Betrieb der größte Norddeutschlands. Traditionell wird hier von Mitte April bis Ende Juni der Spargel gestochen. Pro Saison ernten Pascu und seine Kollegen 5000 Tonnen auf den Feldern – jedes mehrere Fußballfelder groß.

Pro Tag rollen 15 Tonnen fertig verpackter Ware per Lkw von Thiermanns Hof. 70 Prozent gehen an die großen Supermarkt- und Discounterketten. Heinrich Thiermann hat die weißen Stangen früher selbst auf dem Bremer Großmarkt verkauft. 1964 hat er hat den Hof von seinen Eltern übernommen. Der damalige Schweinemast-Betrieb hatte damals gerade 30 Hektar Land.

Die Erntehelfer auf Niedersachsens Spargelhöfen haben im vergangenen Jahr so viel Edelgemüse aus dem Boden geholt wie nie zuvor: In Deutschlands Spargelland Nummer eins haben die Landwirte 2016 mit 26.800 Tonnen einen neuen Ernterekord aufgestellt. Wie auf Thiermanns Feldern werden die Spargeldämme vielerorts vor dem Saisonstart mit Folien überzogen. Die Abdeckungen helfen, die Wärme der Sonnenstrahlen in den Erdwällen zu halten. So kann die Ernte früher beginnen. Sobald die Stangen im Frühjahr durch die Oberfläche brechen, beginnt das große Stechen.

Auf Thiermanns Feldern sind jedes Jahr mehr als 1400 Saisonkräfte aus Polen und Rumänien im Einsatz. Spargel wird in Deutschland überwiegend von Ausländern geerntet. In der Saison arbeiten nach Angaben des Statistischen Landesamtes mehr als 50 000 Osteuropäer allein in Niedersachsen – bundesweiter Spitzenwert.

Um sechs Uhr morgens werden Pascu und seine Kollegen mit ausrangierten Linienbussen von ihren Unterkünften auf die Felder gefahren. Ein genauer Einsatzplan legt fest, welcher Spargel wo an welchem Tag gestochen wird. Etwa 1500 Arbeitsstunden braucht es, um das Gemüse auf einem Hektar Land zu ernten und für den Verkauf aufzubereiten. Mit dem Job sei er zufrieden, sagt Pascu, während er sein Stechmesser in den Erdwall rammt und mit einem Ruck die weiße Stange ans Tageslicht befördert. Dank des Mindestlohns fahre er Ende Juni mit einem guten Einkommen nach Hause.

Seit 2016 gilt in der Landwirtschaft ein Mindestlohn von acht Euro pro Stunde in Westdeutschland und 7,90 Euro in ostdeutschen Bundesländern. Lange hatten sich die Bauern gegen die Einführung gewehrt – am Ende vergebens. Bis November 2017 wird der Mindestlohn überall auf 9,10 Euro steigen. Das wirkt sich auch auf den Spargelpreis aus: 2016 zahlten die Verbraucher nach Einschätzung des Bauernverbandes wegen der gestiegenen Lohnkosten 30 bis 50 Cent mehr pro Kilo als noch im Vorjahr.

Auf dem Feld klebt Gabi-Florin Pascu ein Etikett auf seine volle Spargelkiste und schnappt sich eine leere. Ein Barcode und seine Personalnummer identifizieren Pascus Ertrag. „Um ihr Pensum zu erfüllen, müssen die Erntehelfer pro Stunde mindestens zehn Kilo Spargel aus der Erde holen“, sagt Stefan Pohl. Der 52-Jährige koordiniert als Betriebsleiter für Heinrich Thiermann den Einsatz der Erntehelfer. „Wer die vorgegebene Menge nicht erreicht, muss gehen“, sagt er. Der Mindestlohn habe die Konkurrenz unter den Erntehelfern verschärft.

Pascu und die anderen Spargelstecher aus seiner Kolonne leben während der Spargelsaison in einer großen Wohngemeinschaft. Im Landkreis hat Landwirt Thiermann mehrere leer stehende Gebäude gekauft und bringt dort seine Arbeiter unter. Dazu gibt es für alle Angestellten ein warmes Mittagessen. Auf anderen Höfen müssten die Arbeiter teilweise in Containern hausen, sagt Thiermann. 70 Tage gilt Pascus Arbeitsvertrag als Erntehelfer, ehe er mit seinen Kollegen wieder die Heimreise nach Rumänien antritt.

Die Spargelkisten der Arbeiter werden mehrmals am Tag per Lastwagen auf Thiermanns Hof gefahren. Dort wird das Gemüse per Hand sortiert und gewogen. Während auf den Feldern ausschließlich Männer arbeiten, ist die Verarbeitung des Spargels in der Sortierhalle Frauensache: Hier stehen 120 Arbeiterinnen aus Polen am Band.

Der Spargel wird maschinell gewaschen, geschnitten und vollautomatisch in verschiedene Klassen sortiert. Eine Kamera scannt jede einzelne Stange auf dem Förderband. Dabei sind sowohl der Durchmesser als auch die Farbe und Krümmung der Stangen entscheidend. Der ideale Spargel ist 22 Zentimeter lang, zwei Zentimeter dick, gerade gewachsen – und schneeweiß.

Seit Jahren steigt die Nachfrage nach fertig geschältem Spargel. So wird ein Teil der Ernte auf Thiermanns Hof küchenfertig verarbeitet. Mit flinken Fingern schälen die Arbeiterinnen in der Halle den Spargel im Akkord. Jede schafft etwa zehn Kilogramm in der Stunde. Bei 100 Tonnen geerntetem Spargel helfen den Arbeiterinnen fünf automatische Schälmaschinen. Zum Schluss wird der Spargel portioniert und im Lager auf ein Grad Celsius heruntergekühlt.

Aus dem Kühllager fahren Kühlwagen Thiermanns Spargel quer durch die Republik. Im Schnitt landen pro Haushalt jedes Jahr knapp zwei Kilo Spargel in den Einkaufskörben. Über 90 Prozent des Gemüses stammt aus Deutschland. Regionale Lebensmittel liegen im Trend. Die Nachfrage nach ausländischem Spargel ist seit Jahren rückläufig.

Alena Kordek hat die Oberaufsicht in der Produktionshalle. Gerade ist die vorgeschriebene Pause vorbei. Die Frauen aus Osteuropa kehren in ihren Schürzen und Haarnetzen zurück an die Arbeitsplätze. Kordek ist für die Qualitätskontrolle und das Sortieren des Edelgemüses zuständig. Nebenbei kümmert sich die Polin um die Arbeiterinnen. Sie übersetzt vom Polnischen ins Deutsche und hilft den Frauen bei Problemen in den Gruppen. Nach der Saison wird sie mit ihrem erwachsenen Sohn in den Bergen Urlaub machen. „Wenn ich hier bin, vermisse ich meine Familie“, sagt sie. „Wenn ich zurück in Polen bin, vermisse ich meine Kollegen.“

Kordek, rote Fleecejacke, blaues Haarnetz, steht vor einem Bildschirm und scannt die Personalkärtchen der Arbeiterinnen ein. Mikrut, Mroz, Jagiela – alle Namen werden von ihr erfasst. Seit der Einführung des Mindestlohns gibt es für die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur einen höheren Stundenlohn, sondern auch geregelte Arbeits- und Pausenzeiten. Alles muss genau dokumentiert werden.

„Für uns bedeutet der Mindestlohn einen enormen bürokratischen Aufwand“, sagt Thiermann. Seine vielen Angestellten müssen deshalb immer alle Daten archivieren und auswerten - eine enorme Zusatzarbeit, die eigentlich „in der Landwirtschaft kaum leistbar“ sei, sagt Thiermann.

Der Spargelbauer beobachtet die Entwicklung des Mindestlohns kritisch. „Wenn das so weitergeht, werden die Landwirte das nicht verkraften“, sagt er. Wenn die Lohnkosten weiter ansteigen, würden die Gemüseanbauer langfristig in die Heimatländer ihrer Arbeiter abwandern. Thiermann ist sich sicher: „Irgendwann sind wir nicht mehr wettbewerbsfähig.“

Laut der Mindestlohndatenbank der Hans-Böckler-Stiftung lag der Mindestlohn in Polen 2016 bei 2,55 Euro in der Stunde, in Rumänien wurden sogar nur 1,40 Euro ausgezahlt. Ein Hungerlohn. Auch wenn in diesen Ländern die Lebenshaltungskosten geringer sind als hierzulande. „Steigt der Mindestlohn in Deutschland weiter, wird der Anbau dorthin gehen, wo die Arbeiter wohnen“, sagt Thiermann. Auf seinem Spargel würden dann wohl polnische und rumänische Etiketten kleben.

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Das Magazin gibt es im Handel, unseren Zeitungshäusern, auf www.weser-kurier.de/shop und telefonisch unter 0421/36716616.

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