73 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes setzt sich unverblümter Antisemitismus auf vielen Schulhöfen in Niedersachsen immer mehr durch. Entsprechende Äußerungen und Einstellungen ihrer Mitschüler treiben jüdische Kinder und Jugendliche zunehmend in die innere Immigration. Viele verleugneten inzwischen ihre Religion in der Öffentlichkeit und besuchten dazu unerkannt den evangelischen Religionsunterricht, berichten Vertreter jüdischer Organisationen.
Tonfall hat sich deutlich verschärft
Lisa Scheremet hält die Entwicklung für dramatisch. Die streitbare Lehrerin, die 1990 im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie aus Russland nach Deutschland immigrierte, war jahrelang an einer Berliner Brennpunkt-Schule eingesetzt. Jetzt unterrichtet sie an einer niedersächsischen Hauptschule im Speckgürtel Hamburgs. „Wenn ich einen Juden auf der Straße sehen sollte, würde ich ihn töten“, hätten Schüler in ihrem Unterricht geäußert, sagt die 36-Jährige. Ein Schüler habe sie in sozialen Netzwerken als „Judennutte“ bezeichnet.
Wie weit die Kreise sind, die der Anti-Judaismus im Schulalltag Niedersachsens tatsächlich zieht, ist nicht bekannt. Entsprechende Vorfälle sind nicht meldepflichtig. Eine Statistik werde nicht geführt, bestätigt Sebastian Schumacher, Sprecher im Kultusministerium in Hannover. Wenn überhaupt werden sie zumeist schulintern behandelt. „Jude“ werde auf Schulhöfen seit Jahren gleichbedeutend mit „Opfer“ verwendet, sagt Katharina Seidler, die sieben liberalen Synagogengemeinden im Landesverband der Israelitischen Kulturgemeinden Niedersachsen vorsteht.
Zwar sei ein entsprechender Fall in letzter Zeit nur aus Berlin bekannt geworden, „aber Niedersachsen ist da keine Insel der Glückseligen“, sagt sie. Eine auf Seidlers Rat zugewanderte Mutter aus Osteuropa habe ihr erst kürzlich Vorhaltungen gemacht, weil ihre Kinder als Juden gemobbt würden. Durch den erstarkten Nationalismus in der Türkei und die Israel-kritische Haltung vieler Migranten aus dem Nahen Osten habe sich der Tonfall gerade unter jungen Ausländern deutlich verschärft.
"Jude" als Schimpfwort sei wieder salonfähig
Einen Stimmungsumschwung beobachtet auch Michael Fürst, Vorsitzender im konservativen Landesverband Jüdischer Gemeinden in Niedersachsen. „Jude“ als Schimpfwort sei wieder salonfähig – aber keineswegs nur unter muslimischen Migranten oder Anhängern der AfD. „Das gibt es auch bei Mitgliedern von CDU oder SPD“, sagt Fürst, „und die Eltern beeinflussen – oftmals unterschwellig – ihre Kinder“.
Fürst verlangt allerdings eine angemessene Differenzierung. „Jude“ werde keineswegs nur für Angehörige der Religionsgemeinschaft verwendet, sondern häufig als Teil einer vermeintlich coolen Jugendsprache ähnlich gedankenlos wie „schwul“ für vermeintlich Andersartige oder Schwächere. „Viele, die das sagen, haben garantiert noch nie einen Juden getroffen“, glaubt er. Ob dahinter tatsächlich ein gefestigtes antisemitisches Weltbild stehe, sei unklar. Zumindest aber werde entsprechenden Äußerungen häufig nicht angemessen widersprochen.
Eine tatsächliche Bedrohung für die jüdischen Gemeinden in Niedersachsen – Ende 2016 gehörten ihnen nach Daten der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 7946 Mitglieder an – sieht Michael Fürst nicht. Dennoch beklagt er wie Seidler erhebliche Mängel in der pädagogischen Aufklärung. Viele Lehrer wüssten mit dem Thema nicht umzugehen. Die Kenntnislücken vieler Pädagogen seien gravierend. Bei einem Synagogenbesuch habe ein Lehrer seine Schüler zum Ausziehen der Schuhe aufgefordert, erzählt Seidler. „Der hat die Synagoge glatt mit einer Moschee verwechselt.“ Fürst sähe den Besuch einer NS-Gedenkstätte deshalb gerne als Pflichtinhalt des Lehrplans an Niedersachsens Schulen.
Konfessionell-Kooperativer Unterricht
Auch die Kirche sieht das Problem. Ein Fünftel der Bevölkerung habe eine latent judenfeindliche Einstellung, erklärte die Landeskirche Hannover unlängst zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. Der Diskriminierung jüdischer Mitbürger müsse widersprochen werden, schrieb Landesbischof Ralf Meister in einem Brief an alle Gemeinden: „Antisemitismus ist Sünde gegen die Menschheit und gegen Gott.“ Auch Oberkirchenrat Thomas Adomeit, Vertreter auf dem vakanten Bischofsposten der evangelischen Landeskirche in Oldenburg, findet deutliche Worte: „Wo die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk als Beschimpfung gebraucht wird – und sei es auch nur als übler Scherz – wird eine Grenze überschritten.“ Dies dürfe weder aus Unwissenheit noch als Provokation unwidersprochen bleiben.
Von einem „Verstecken“ jüdischer Schüler im christlichen Unterricht ist der Kirche indessen nichts bekannt. „Wir wissen nichts von solchen Fällen“, sagt Kerstin Hocharz. Sie leitet die Arbeitsstelle Religionspädagogik in Oldenburg. Grundsätzlich stehe der Unterricht allerdings Schülern jedes Glaubens offen. Er solle junge Menschen „identitäts- und pluralitätsfähig“ machen. Insofern wirbt sie für konfessionell-kooperativen Unterricht, der abwechselnd von evangelischen und katholischen Theologen gehalten wird, der unterschiedliche Sichtweisen vorstellen soll.
24,7 Prozent der niedersächsischen Schüler nähmen an diesem Pilotprojekt bereits teil. Bei ausreichend großen Schülerzahlen wolle man auch jüdische oder muslimische Religionslehrer einbinden. „Das wäre die beste Möglichkeit, Unwissenheit abzubauen und gegensätzliche Positionen pädagogisch begleitet zu diskutieren“, glaubt Hocharz.
Ministerium lehnt Pflichtbesuch ab
Verpflichtende Gedenkstätten-Besuche zur Sensibilisierung der jungen Generation stoßen hingegen nicht auf positive Resonanz. Das zuständige Kultusministerium lehnt sie ab. „Sie führen unserer Überzeugung nach nicht zum erhofften Lerneffekt“, sagt Ministeriums-Sprecher Schumacher. 2015 seien mindestens 46.000 niedersächsische Schüler in Gedenkstätten im Land zu Gast gewesen, berichtet Jens-Christian Wagner. Er ist Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Hinzu kämen Besuche in anderen Bundesländern. So hätten nahezu 10.000 Schüler das ehemalige KZ Mittelbau Dora in Thüringen aufgesucht. Fast 6000 Schüler waren im ehemaligen KZ Neuengamme in Hamburg. Hochgerechnet auf die Gesamtschülerzahl und die Pflichtschuljahre „kann man davon ausgehen, dass derzeit (beziehungsweise 2015) rund 70 Prozent aller niedersächsischen Schüler mindestens einmal in ihrer Schulzeit eine Gedenkstätte besuchen“, schätzt Jens-Christian Wagner.
Die übrigen Schüler auf eine solche Fahrt zu zwingen, davon hält er ebenfalls nichts. „Zwang führt nur zu Abwehr und ist deshalb kontraproduktiv“, sagt er auch mit Blick auf entsprechende Erfahrungen aus der ehemaligen DDR. Zudem seien kurze Führungen wenig sinnvoll, eine ausführliche Vor- und Nachbereitung erforderlich.
Mehrtägige Projekte vor Ort
Am besten geschieht das nach Wagners Erfahrungen in mehrtägigen Projekten vor Ort. Hierfür fehle es aber an geschultem Personal und passenden Räumlichkeiten. So ist die von der Stiftung betreute Gedenkstätte Bergen-Belsen im Landkreis Celle für 2018 bereits weitgehend ausgebucht. An der Bereitschaft der öffentlichen Hand, für mehr Kapazitäten zu sorgen, mangelt es. Erst Ende November 2017 lehnte der Stadtrat von Bergen den Bau einer Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte in direkter Nachbarschaft zur Gedenkstätte ab. Dabei hatte die Stadt eine Zusage für Landesmittel in Höhe von 3,6 Millionen Euro bereits in der Tasche. Die Ratsvertreter waren nicht gewillt, ihrerseits 1,8 Millionen Euro zuzuschießen.
In Bergen-Belsen starben nach Angaben der Gedenkstätte zwischen 1943 und 1945 mindestens 52.000 Männer, Frauen und Kinder. Bei der Befreiung am 15. April 1945 fanden britische Soldaten Tausende unbestattete Leichen und zum Skelett abgemagerte todkranke Menschen. Die nach Kriegsende bekannteste Gefangene war die erst 15 Jahre alte Anne Frank. Sie fiel noch kurz vor der Befreiung im Februar oder März 1945 einer Fleckfieberepidemie im Lager zum Opfer.
Inwieweit Antisemitismus in Bremen verbreitet ist, hat Buten un Binnen hier recherchiert: