Hannover. In Niedersachsen gibt es rund 24800 Obdachlose – diese Zahl der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist geschätzt und obendrein ein Jahr alt. Die hochgerechneten Zahlen waren bislang Handlungsgrundlage des Landes. "Bislang gab es keine umfassende Abfrage und Datenlage", heißt es im Sozialministerium in Hannover. Das ändert sich jetzt. Die erste Erhebung der Unterbringungsfälle in Obdachlosenunterkünften der Städte und Kommunen Niedersachsens ist vorläufig ausgewertet.
Eigentlich hätten Städte und Gemeinden schon im Sommer melden sollen, wie viele Menschen in ihren Obdachlosenunterkünften untergebracht sind. Jetzt, rechtzeitig zum Winter, der gefährlichsten Zeit für alle, die keine Wohnung haben, gibt es zumindest vorläufige Erkenntnisse. Demnach wurden zum Stichtag, dem 31. Dezember 2011, landesweit 953 Obdachlosenunterkünfte gemeldet, insgesamt 99 Übernachtungsstellen und 854 Dauerunterkünfte. Von den 8129 vorgehaltenen Plätzen seien zum Stichtag 4045 belegt gewesen. Das ergibt sich aus den Antworten von bislang rund 93 Prozent der Städte und Gemeinden auf die Anfrage aus Hannover. Mit der "Platzzahlauslastung" von circa 49,7 Prozent "ist im Regelfall von ausreichenden Kapazitäten zur ordnungsrechtlichen Unterbringung obdachloser Personen auszugehen, teils bestehen Überkapazitäten", heißt es in einer ersten Einschätzung aus dem Sozialministerium.
Der Verein Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), Dachverband der Wohnungslosenhilfe in Deutschland mit Sitz in Bielefeld, sprach bereits vor einem Jahr von "einem deutlichen Anstieg" und einer "bedrohlichen Trendwende". Als Ende November die bislang jüngsten Daten über das Phänomen verbreitet wurden, sagten die Bielefelder "bis 2015 sogar einen drastischen Anstieg der Wohnungslosigkeit um zehn bis 15 Prozent auf dann 270000 bis 280000 Menschen" voraus. Jeweils ein Zehntel der bundesweit Betroffenen vermutete das Sozialministerium bislang in Niedersachsen.
Das niedersächsische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (NSOG) verpflichtet die Kommunen, obdachlos gewordene Personen – zumindest vorläufig – unterzubringen. Dabei deute ein unfreiwilliger, schutzloser Aufenthalt ohne Unterkunft "in der Regel auf eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hin", so formuliert es die Evangelische Obdachlosenhilfe.
Seit 2008 sei die Zahl der Wohnungslosen bereits um zehn Prozent auf 248000 gestiegen, hatte die Bundesarbeitsgemeinschaft festgestellt. Abgeordnete der Fraktionen von SPD, Linke und Grünen gehen davon aus, dass dies "wahrscheinlich eine Auswirkung der im Wohngeld- und Mietenbericht 2010 der Bundesregierung festgestellten Dynamisierung der Wohnungsmärkte" ist. In einer Kleinen Anfrage an den Bundestag ging es um die Einführung einer bundesweiten Wohnungsnotfallstatistik. Die Bundesregierung lehnte eine solche Statistik im August ab.
In Nordrhein-Westfalen – gibt es eine sogenannte integrierte Wohnungsnotfallstatistik bereits. "Das nordrhein-westfälische Modell", sagt BAGW-Geschäftsführer Thomas Specht, "hat zum zweiten Mal einen extrem guten Rücklauf bei den befragten Gemeinden und Verbänden gehabt."
Der Teufel steckt im Detail
Dieses soll für Niedersachsen Vorbild sein: "In der integrierten Statistik werden die Daten aus Notunterkünften der Kommunen und freien Träger zusammengerechnet", sagt Peter Szynka, Geschäftsführer des Evangelischen Fachverbandes Wohnung und Existenzsicherung. Die Beratungsstelle, in der Ministerium, Diakonie und Caritas zusammenarbeiten, sei dabei, die niedersächsischen Daten flächendeckend zu sammeln", sagt Szynka. "Der Teufel steckt im Detail, aber ich denke, wir sind in wenigen Wochen so weit."
Die Zusammenführung der Daten von freien Trägern und Ordnungsbehörden allein garantiert aber offensichtlich noch nicht, dass am gleichen Strang in dieselbe Richtung gezogen wird. Das Ministerium hat nach Auswertung der Antworten aus den Kommunen festgestellt, dass 82 Prozent der in Obdachlosenunterkünften untergebrachten Menschen dort länger als sechs Monate lebten. Dieser hohe Anteil zeige, dass die Verzahnung mit Reintegrationshilfen verbessert werden müsse, heißt es beim Ministeriums.
Thomas Specht von der BAGW verfolgt eine andere Linie: "Wir setzen darauf, den Wohnungsverlust zu verhindern, zum Beispiel durch Schuldenübernahmemodelle", sagt er. "Es ist schließlich seit 40 Jahren aus der Obdachlosenforschung bekannt, dass es nach der Einweisung in eine Notunterkunft äußerst schwierig ist, wieder in eine Wohnung zu kommen."