Reetdächer verrotten heute schneller als früher. Ein Experte führt das auf Ammoniak in der Luft zurück, das durch intensive Landwirtschaft freigesetzt werde. Ganze Landstriche könnten so auf Dauer ihr typisches Erscheinungsbild verlieren, weil Reetdächer sich nicht mehr rentieren.
Reet zählt zu den ältesten Baustoffen. Bereits 4000 Jahre vor Christus entstanden am Bodensee die ersten Reetdachhäuser. Sie bestehen aus getrocknetem Schilfrohr. Das enthält sehr viel Silizium, was als extrem wasserabweisend gilt. Reet wirkt gegen Kälte und Hitze sowie Lärm. Ein Reetdach hält im Schnitt 30 bis 40 Jahre. Diese Aussage galt zumindest in der Vergangenheit.
„In Regionen mit intensiver Landwirtschaft stellen wir fest, dass drei Viertel der Reetdächer, die in den letzten 15 Jahren gedeckt wurden, innerhalb von zehn Jahren verrotten“, sagt Professor Gunter Schlechte, Inhaber des Forschungsbüros für Angewandte Mikrobiologie in Bockenem bei Hildesheim. Er beobachtet diese Entwicklung seit sieben Jahren – seitdem wird durch Massentierhaltungsställe oder durch überdüngte Felder in besonderem Umfang Ammoniak freigesetzt. In den von Tiermast geprägten Regionen Vechta und Cloppenburg wies er im Reet zum Teil eine zehnfach höhere Stickstoffkonzentration als in anderen Gegenden nach. Auch in den Regionen Cuxhaven, Stade sowie im Bremer Raum stellte er ähnlich hohe Belastungen fest. Die Folge: Braun- und Weißfäulepilze verbreiten sich durch das hohe Stickstoffangebot auf den Dächern und führen häufig dazu, dass das Reet aufweicht und zerbröselt. Viele Landstriche vor allem in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, wo es die meisten Reetdachhäuser gibt, könnten so auf Dauer ihr typisches Erscheinungsbild verlieren – allein im Landkreis Cuxhaven stehen laut Schlechte mehr als 1000 der bundesweit wahrscheinlich über 100000 Reetdachhäuser.
„Es gibt Hausbesitzer, die wegen der starken Stickstoffbelastung keine Zukunft für ihr Reetdach sehen und deswegen auf ein Hartdach umsteigen“, sagt Schlechte. Das ist allerdings zunächst mit hohen Kosten verbunden, denn dafür muss erstmal ein neuer Dachstuhl gebaut werden, weil Ziegel schwer sind. Andere Betroffene halten an ihrem traditionellen Dach fest und achten stärker als bisher auf die Reet-Qualität bei einer Neueindeckung. „Mit Premiumqualitäten hat man auch in belasteten Regionen die Chance, dass das Reetdach 20 Jahre hält“, sagt Schlechte.
Zu einer Diskussion über die Intensivlandwirtschaft und ihre Auswirkungen habe die frühzeitige Verrottung der Reetdächer allerdings nicht geführt: „Es gibt kein Umdenken, das Problem wird durch die Landwirtschaftslobby verschleiert. Und die meisten betroffenen Hauseigentümer trauen sich nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil sie Angst vor dem Druck durch Landwirte in ihrer Nachbarschaft haben.“
Jürgen Bathel, Sachverständiger der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade, hat pro Jahr zehn bis 20 Schadensfälle zu begutachten. „Es gibt immer häufiger Streitfälle wegen gravierender Schäden nach kurzer Zeit“, sagt der Dachdeckermeister aus Drage an der Elbe. Er kritisiert die handwerklichen Mängel bei der Ausführung der Arbeiten. „Viele Betriebe haben keinen Meister mehr. Dennoch bekommen sie meist die Aufträge, weil sie ihre Leistungen bis zu 30 Prozent günstiger anbieten.“ Da sei es „kein Wunder, dass die Qualität darunter leidet.“
Zehn Prozent des in Deutschland eingesetzten Reets stammt aus Ostfriesland, Dithmarschen und der Region an Wümme und Weser. Es fällt wegen zu geringer Halmwanddichte nicht selten durch die Zertifizierung, die für denkmalgeschützte Gebäude vorgeschrieben ist. Hauptlieferanten sind Ungarn, Rumänien, die Türkei und China.
Das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege hat Empfehlungen formuliert, was die Qualität des Reets betrifft. Auch die Hausbesitzer können danach etwas für den Erhalt des Reetdaches tun, etwa Bäume in unmittelbarer Dachnähe stutzen, damit das Dach nach einem Regen besser abtrocknen kann. Zudem müsse das Reetdach regelmäßig von Moosen, Ästen und Blättern gesäubert werden.
Brigitte Rössing weiß, dass ein Reetdach besondere Pflege benötigt – sie lässt das Moos alle zwei, drei Jahre von einem Fachbetrieb vom Dach ihres rund 400 Jahre alten niedersächsischen Bauernhauses abklopfen. Nach dem Kauf vor 30 Jahren hat sie die hohen Tannen in unmittelbarer Hausnähe fällen lassen. „Seitdem bekommt das Haus und damit auch das Dach mehr Sonne ab und trocknet besser, es gibt auch weniger Moos“, sagt sie. Im nächsten Jahr wird sie die herunter gekommene Reetdachseite neu decken lassen – das Dach auf der rechten Haushälfte ist nur noch halb so dick wie das auf der gegenüberliegenden Seite.
Von der frühzeitigen Verrottung von Reetdächern hat sie gehört – sie ist davon nicht betroffen und kann sich über ihr Reetdach nach wie vor freuen: „Es riecht hier im Sommer schön nach Heu, wenn es ganz trocken ist.“ Im Sommer sei es in der Wohnung durch das Reetdach und die Lehmwände angenehm kühl, im Winter dagegen warm. Sie müsse nur wenig heizen, das Raumklima sei sehr angenehm. Brigitte Rössing: „Und bei Sturm braucht man keine Angst zu haben, dass einem ein Ziegelstein auf dem Kopf landet.“