Folgt Niedersachsen Berlin? Muss auch hier die Landtagswahl wiederholt werden? 22 Einsprüche gegen das amtliche Stimmergebnis vom 9. Oktober 2022 sind fristgerecht beim Landtag eingegangen. In den meisten davon geht es um mögliche Ungereimtheiten bei der AfD-Kandidatenliste. Der frühere FDP-Landtagsabgeordnete Marco Genthe aus Weyhe bestreitet, dass bei der Aufstellung des Landeswahlvorschlags der AfD alles mit rechten Dingen zugegangen sei, dass insbesondere die Bewerber in einer „freien, demokratischen und geheimen Wahl“ gekürt worden seien. Ähnliche Rügen kommen auch aus der Rechts-Partei selbst. Mindestens zwei AfD-Mitglieder haben ebenfalls Einspruch eingelegt.
Bei der Landtagswahl flog die FDP mit nur 4,7 Prozent aus dem Parlament. Die AfD kam dagegen auf elf Prozent und zog mit 18 Abgeordneten in das Leineschloss. Jetzt muss sich der Wahlprüfungsausschuss des Landtages mit der Frage befassen, ob der AfD diese Mandate auch wirklich zustehen oder ob eine Neuauflage der Wahl erforderlich ist. Gegen diese Entscheidung ist Beschwerde beim Staatsgerichtshof in Bückeburg möglich. Soweit ist es allerdings noch nicht. Zunächst müssten die Stellungnahmen aller Beteiligten ausgewertet werden, erklärt der Vorsitzende des Gremiums, der CDU-Abgeordnete André Bock, im Gespräch mit dem WESER-KURIER. Bis Ende März solle der Ausschuss dann zu einer regulären Sitzung zusammenkommen, um das weitere Vorgehen zu beraten. Bei Bedarf könnten einzelne Zeugen angehört und Akteneinsicht beantragt werden.
Hintergrund der Einsprüche sind Korruptionsvorwürfe des früheren AfD-Abgeordneten Christopher Emden. Der ehemalige Richter hatte kurz vor der Landtagswahl in einem ZDF-Interview behauptet, dass er und andere sich einen aussichtsreichen Platz auf der AfD-Landesliste für 4000 Euro hätten kaufen müssen. AfD-Landesvize Ansgar Schledde habe eigens dazu eine Art „Kriegskasse“ geführt. Der Immobilienkaufmann aus der Grafschaft Bentheim, der inzwischen selbst im Landtag sitzt, und sein Bundestagskollege, Parteichef Frank Rinck, wiesen die Vorwürfe als haltlos zurück. Emden habe sich nur an seinen früheren Parteifreunden rächen wollen. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück leitete zwar ein Ermittlungsverfahren wegen Untreue ein, stellte dieses aber mangels hinreichenden Tatverdachts schnell wieder ein.
Für den promovierten Rechtsanwalt Genthe ändert die Entscheidung der Strafverfolger nichts am Vorwurf des Stimmenkaufs. Der Beschluss besage lediglich, dass eine Vermögensschädigung von AfD-Mitgliedern nicht nachzuweisen sei. Hier gehe es aber um verfassungsrechtliche Fragen. „Die niedersächsischen Wähler haben eine falsche Liste vorgesetzt bekommen.“ Und dies habe sich in relevanter Weise auf die Sitzverteilung im Landtag ausgewirkt, betont Genthe im Gespräch mit dem WESER-KURIER. In seinem Einspruch beruft sich der Liberale außerdem darauf, dass die Aufstellung der AfD-Kandidatenliste gar nicht der Parteisatzung entsprochen habe.

Musste sich von seinem Landtagsmandat verabschieden: Marco Genthe (FDP) aus Weyhe.
So sei diese nicht wie vorgeschrieben von einem Mitgliederparteitag, sondern Anfang Juli von einer in der Satzung nicht vorgesehenen Delegiertenversammlung beschlossen worden. Und dort seien Vertreter aus den AfD-Kreisverbänden Wesermarsch, Rotenburg, Stade und Wolfsburg nicht zugelassen worden. Die Kreisverbände Osterholz und Göttingen hätten keine Delegierten bestimmen können. Die Wahlgänge hätten also durchaus anders ausgehen können. Ähnliches steht in den Wahl-Einsprüchen aus den Reihen der AfD.
Diese Vorwürfe hatte das damalige Noch-AfD-Mitglied Emden schon im Juli gegenüber Landeswahlleiterin Ulrike Sachs erhoben. Der AfD-Landesvorstand berief sich damals auf einen Parteitagsbeschluss von Ende Mai, der den Weg für eine Delegiertenversammlung freigemacht habe. Außerdem seien sehr wohl vier der sechs Kreisverbände anwesend gewesen. Bei ihrer Überprüfung im August kam Wahlleiterin Sachs zu dem Schluss, dass derartige Satzungsfragen für das Wahlrecht nicht entscheidend seien. Solche Konflikte müssten Parteien intern über ihre Schiedsgerichte klären.

Die niedersächsische Landeswahlleiterin Ulrike Sachs steht in der Kritik.
Dem widerspricht FDP-Mann Genthe vehement. „Der grob fehlerhaft aufgestellte Landeswahlvorschlag ist für den demokratischen Gesamtcharakter der Landtagswahl von entscheidender Bedeutung“, schreibt der Jurist und verweist auf eine Entscheidung des sächsischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2018. Der Wahlprüfungsausschuss müsse auch der Frage nachgehen, „warum die Landeswahlleiterin ihrer Kontrollfunktion nicht in ausreichendem Maße nachgekommen ist“. Ulrike Sachs habe schließlich frühzeitig Hinweise auf Mauscheleien bekommen.
Diesen Ball hat inzwischen auch die CDU-Fraktion aufgenommen. „Welche konkreten Maßnahmen hat die Landeswahlleiterin unternommen, um sicherzustellen, dass der eingereichte Landeswahlvorschlag der AfD recht- und verfassungsmäßig zustande gekommen ist?“, will der Abgeordnete Uwe Schünemann in einer Parlamentsanfrage von der rot-grünen Landesregierung wissen. Bislang haben Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und seine Kabinettsmitglieder zu den Vorgängen und deren möglichen Konsequenzen bis hin zu einer Neuwahl geschwiegen.