Berlin. Nach 20 Minuten passiert es, ganz kurz nur. Die Kanzlerin gähnt. Der neue Bundespräsident ruft in seiner Antrittsrede nach der Vereidigung im Reichstag, in seiner ersten großen programmatischen Ansprache, gerade zum wiederholten Male dazu auf, die Demokratie „gegen Populisten unterschiedlicher Couleur“ zu verteidigen – da wird Angela Merkel auf der Regierungsbank von Sauerstoffmangel oder Mittagsschwere überwältigt. Oder eben von der Macht des Wortes von Frank-Walter Steinmeier.
Es ist aber auch eine besonders schwergängige Passage, durch die er da gerade führt, im gleichen Tonfall wie in den 20 Minuten zuvor und den zehn, die noch folgen. Viel „Hoffnung erhalten“ und „Versprechen erneuern“, viel Sonntagsrede also. Am Ende wird er trotzdem stehende Ovationen bekommen, sogar von der Linkspartei.
Denn die Rede hatte ja auch starke Passagen. Am Anfang, als er dem türkischen Präsidenten Erdogan zurief, mit den Nazi-Vergleichen aufzuhören, den Rechtsstaat zu achten und den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel freizugeben. Und am Ende, als er das moderne, bescheidene Nachkriegsdeutschland zum Verteidiger der westlichen Werte ausruft. Nicht nur Bundestagspräsident Norbert Lammert und Steinmeiers Vorgänger Joachim Gauck betonen es, auch viele in Politik und Medien finden, dass Steinmeier für diese schwierigen Zeiten genau der Richtige sei.
Er ist der beliebteste Politiker der Republik, schwebte als Außenminister ohnehin seit Jahren über dem Parteienstreit. Als Politiker geprägt im Maschinenraum der Macht, in der politischen Verwaltung, im Hintergrund als Strippenzieher, gilt er als Pragmatiker, Realpolitiker – keiner, mit dem die Emotionen oder Ideale durchgehen. Ein Beruhigungsmittel gegen die Erdogans, Putins, Trumps. Bei genauerem Hinsehen aber, und das beginnt ja in diesem Moment im Reichstag, kann man immer noch staunen, dass dieser Mann an dieser Stelle gelandet ist.
Drei Tage zuvor, an einem verregneten Sonntag, ist Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbender in seinen neuen Amtssitz eingezogen. Eine streng nach Protokoll orchestrierte „symbolische Übergabe der Amtsgeschäfte“. Gauck, der als Quereinsteiger ins höchste Staatsamt kam, hatte vor fünf Jahren an gleicher Stelle noch gesagt: „Das Herz puckert schon erheblich.“
Bei Steinmeier kommt keiner auf die Idee, ihn nach seinen Gefühlen zu fragen. Das ist der Unterschied zu Gauck, und das ist bei genauerem Hinsehen Steinmeiers Schwäche als Berufspolitiker: Was ist eigentlich seine Lebenserzählung? Das Thema, für das er mit seiner Person und Biografie steht, und das nun seine Präsidentschaft prägt?
In seiner Antrittsrede dekliniert er die Bedrohungen und Gefahren für die liberale Demokratie durch. Es geht um Europa, um Deutschlands neue Rolle in der Welt und die aktive Bürgerschaft. Mit Leben kann er diese abstrakten Gedanken nur füllen, indem er von Begegnungen mit dem Wahlvolk spricht, wie ein Politiker eben.
Hinweise auf ein Lebensthema, das vergleichbar wäre mit Gaucks Freiheitssehnsucht nach seinem DDR-Leben, gibt es in Steinmeiers Biografie kaum. Am ehesten könnte er seine Aufsteigergeschichte in die heutige Zeit übersetzen: 1956 im Lipperland geboren als Kind eines Tischlers und einer Fabrikarbeiterin, war Frank-Walter der erste Steinmeier, der studieren konnte.
Als Gerhard Schröder 1990 Ministerpräsident von Niedersachsen wird, bekommt Steinmeier nach seinem Jura-Abschluss in Gießen einen Anruf von seiner einstigen Kommilitonin Brigitte Zypries. Damals empfahl sie Steinmeier, sich für einen Posten in Schröders Staatskanzlei zu bewerben. Wenig später fängt er dort tatsächlich als Medienreferent an – und steigt in nur drei Jahren zum Büroleiter des Regierungschefs auf. Es ist der erste von mindestens vier erstaunlichen Karrieresprüngen Steinmeiers, die sich aus heutiger Sicht nicht allein mit Fleiß und Gelegenheit erklären lassen.
Schröder war jedenfalls nie ein großer Aktenleser, dafür hatte er Steinmeier. Besser eingearbeitet ist selten jemand. Aus dieser Zeit stammt Steinmeiers Ruf als Pragmatiker, als Technokrat. Überkorrekt, übervorsichtig. Womöglich ist ihm gerade so ein Fehler passiert, der bis heute nachhängt: Als Kanzleramtschef schlug er 2002 das Angebot der Amerikaner aus, den Bremer Murat Kurnaz aus Guantánamo zu entlassen, beließ ihn vier Jahre ohne Anklage im Lager. Eine Entscheidung aus Vorsicht, nach Aktenlage.
Der zweite beachtliche Schritt in Steinmeiers Karriere folgt 2005: Obwohl Schröder abgewählt ist und die SPD Merkels Juniorpartner wird, setzt der scheidende Kanzler seinen weitgehend unbekannten Freund als Außenminister durch. Ein solcher Wechsel vom Maschinenraum aufs Sonnendeck ist kein reiner Glücksfall, dahinter steckt auch die Bereitschaft zuzugreifen. Machtwillen. Das beweist sich erneut, als Steinmeier 2009 für seine SPD als Kanzlerkandidat gegen Merkel antritt. Und noch einmal, als er mit 23 Prozent zwar das schlechteste SPD-Wahlergebnis der Nachkriegszeit einfährt – sich aber trotzdem noch in der Wahlnacht zum Fraktionschef ausruft.
Wichtiger als alles aber, jedenfalls fürs neue Amt: In seinem brandenburgischen Wahlkreis lernte Steinmeier seit 2009 auch das Menscheln. Jeder dort schwärmt über den volksnahen Außenminister, der den Bürgern vor Ort half, Millionen zur Sanierung verfallener Wohnsiedlungen zu beschaffen oder das beste Loriot-Denkmal für dessen Geburtsstadt Brandenburg an der Havel auszuwählen. Es wurde ein Rudel bronzener Waldmöpse.
Am Mittwoch gab Steinmeier noch einen Hinweis auf seine künftige Agenda: „Ich will an die Orte der deutschen Demokratie gehen“, sagte er, „und vor allem hin zu den Menschen, die sie leben und beleben.“ Im Kopf des Ex-Außenministers reift, nach allem, was man hört, die Idee eines Bürgerpräsidenten. Es würde seinen Stärken entgegenkommen. Und es wäre die vollendete Wandlung des Frank-Walter Steinmeier.