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Berliner Anlaufstelle für Flüchtlinge ist hoffnungslos überlastet – jetzt richtet der Senat eine neue Behörde ein Aus dem Krieg in den Termin-Dschungel

„Wenn du dich nicht nachts hier anstellst, kommst du nicht dran.“ Asim Shahzad Ali aus Pakistan Berlin.
02.12.2015, 00:00 Uhr
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Von Violetta Kuhn

Es ist vier Uhr morgens, gerade ist der Bauzaun geöffnet worden. Zunächst sind nur laute Rufe zu hören, dann tauchen die ersten Männer auf. Sie stürmen über das Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso). Ein Pulk aus hundert weiteren Männern folgt ihnen. Ihr Ziel ist es, einen Platz ergattern – möglichst weit vorne in einem Wartezelt. Die Männer, die hier in Dunkelheit und Kälte auf ein weißes Zelt zurennen, sind Flüchtlinge. Sie sind bereits registriert, haben Unterkünfte. Trotzdem brauchen sie einen Termin beim Lageso. Weil ihr Hostel-Gutschein ausläuft oder weil sie Bargeld erhalten. Alle Männer wissen, dass nur ein kleiner Teil von ihnen heute an die Reihe kommen wird. Und deshalb gilt: schnell laufen und sich durchsetzen.

„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, fasst ein Mitarbeiter des Koordinierungsstabs für Flüchtlinge zusammen. Dabei hatte der Berliner Senat angekündigt, dass frühes Anstellen keine Vorteile mehr bringen soll. Bei den Flüchtlingen müsse sich das aber erst herumsprechen. Hat es aber offensichtlich nicht: Eine halbe Stunde vor dem Ansturm warten bereits rund 200 Flüchtlinge, sitzen und liegen entlang einer Hauswand auf dem Boden. Über sich haben sie Decken gebreitet, viele haben Wollschals als Turbane um den Kopf gewickelt. Plastikplanen sollen gegen die Windböen schützen.

„Wenn du dich nicht nachts hier anstellst, kommst du nicht dran“, sagt Asim Shahzad Ali, ein 29-Jähriger aus Pakistan, auf Englisch. Seit 23 Uhr stehe er hier, die an der Spitze der Schlange warten 16 Stunden länger als er in Kälte und Regen. Kaum jemand geht in die drei „Wärmebusse“, die private Stifter zur Verfügung stellen. Wer die Warteschlange auch nur einen Moment verlässt, riskiert, seinen Platz zu verlieren.

Berlin hat in diesem Jahr 65 000 Flüchtlinge aufgenommen, täglich kommen 600 bis 800 neu an. Für die Erstregistrierung gibt es mehrere Stellen. Es sind die Folgeleistungen, bei denen es hakt. Eigentlich sind alle, die vor dem Lageso warten, „Terminkunden“. Ali zeigt einen Zettel, den er von der Behörde bekommen hat. „Konnte nicht abgefertigt werden“, steht da, er möge am darauffolgenden Morgen erscheinen. Doch auch dann hieß es: „Heute nicht“. Das sei aber noch gar nichts, im Oktober sei er 24 Tage lang vertröstet worden.

Wer, wann, warum einen Termin bekommt, weiß niemand genau. Das frustriert. Als im Zelt plötzlich Dutzende Flüchtlinge über die Absperrungen steigen, droht die Stimmung zu kippen. Männer schreien, es wird geschubst und geschoben. Die Polizei bringt 70 Drängler nach draußen. „Es gibt immer wieder Verletzte“, sagt Victoria Baxter, eine ehrenamtliche Helferin.

Die Caritas könne sich nur um zehn „Härtefälle“ pro Tag kümmern, berichtet Ulrike Kostka, Direktorin der Hilfsorganisation. 20 Schwerkranke müsse man täglich wegschicken. Ehrenamtliche der Initiative „Moabit hilft“ versorgen die wartenden Flüchtlinge seit Monaten. Sprecherin Christiane Beckmann sagt: „Wenn wir nicht wären, hätte es hier schon Tote gegeben.“ Um 7 Uhr wird nirgends mehr gerannt. Dafür flehen Männer an Absperrungen, Schwangere schwenken verzweifelt ihre Mutterpässe. Die Wachmänner müssen entscheiden, wer sofort rein darf und wer nicht.

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) ist gekommen, um sich zu informieren. Sie ist empört über den rauen Tonfalls der Wachleute: „Das sind Zustände, die auf große Überforderung hinweisen.“ Sie frage sich, warum in Bayern alles besser funktioniere. Lageso-Präsident Franz Allert versucht, den nächtlichen Andrang zu erklären: „Es sind einfach viel mehr Menschen in der Stadt.“ Das bedeute, dass jetzt schlicht mehr Flüchtlinge Folgeleistungen beantragten. Sie müssten zudem immer wieder kommen, denn das Lageso könne nur monatsweise helfen.

Vor der Behörde gibt es allerdings schon seit dem Sommer lange Warteschlangen. Jetzt hat der Senat darauf reagiert: Es soll eine ganz neue Behörde nur für Flüchtlingsfragen eingerichtet werden. Das neue Landesamt soll sich um die Registrierung, die Unterbringung und die Versorgung der Flüchtlinge kümmern. Das Lageso gibt die Flüchtlingsfragen ab, ist aber weiter beispielsweise für die Heim- und Krankenhausaufsicht, die Anerkennung von Schwerbehinderung, das Veterinärwesen und den Gesundheitsschutz zuständig.

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