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Europawahl 2024 „Es braucht ein bisschen Drama“

Der ständige Vertreter Deutschlands in Brüssel, Michael Clauß, über die Entscheidungsprozesse bei 27 Mitgliedsstaaten.
02.02.2024, 20:00 Uhr
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„Es braucht ein bisschen Drama“
Von Katrin Pribyl

Herr Clauß, Sie sind Langstreckenläufer. Ist EU-Politik eher Marathon oder Sprint?

Michael Clauß: Eher ein Marathon. Viele Themen begleiten uns seit vielen Jahren, da braucht man schon einen langen Atem. Außerdem ist mit Blick auf die vielen Ministerräte eine gute Kondition notwendig, sodass man die vielen Sitzungen und Nachtsitzungen auch physisch durchhält.

Wie muss man sich die Verhandlungen vorstellen?

Wir bringen die deutschen Interessen in die vielen Rechtsakte ein, ob das etwa im Bereich der Migration oder in der Wirtschaftspolitik ist. Genauso machen das andere Mitgliedstaaten natürlich auch. Jeder versucht eine Mehrheit für seine Position zu gewinnen. Das bedeutet, dass man auch bereit sein muss, Kompromisse zu schließen. Am Ende zählt für uns das Ergebnis, das die EU insgesamt voranbringt.

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Inwiefern hat sich die EU während Ihrer Karriere in den letzten 27 Jahren verändert?

Zum einen ist sie deutlich größer geworden. Damit ist es viel komplexer, den Interessenausgleich zu finden, der notwendig ist, um sich auf eine Position zu einigen. Zum anderen war die EU früher eine reine Gesetzgebungsmaschine. Krisen waren Sache der Mitgliedstaaten, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gab es praktisch nicht. Gesetzgebung spielt nach wie vor eine zentrale Rolle, wir reagieren aber auch viel stärker auf Krisen. Wir sind also geopolitischer geworden. Das hat sich in den letzten zehn Jahren sukzessive entwickelt. Zu Recht, denn Europa muss sein außenpolitisches Gewicht nutzen.

Wodurch wurde diese Entwicklung angetrieben?

Vor allem haben wir als Mitgliedstaaten verstanden, dass wir stärker zusammenarbeiten müssen. Wir alle, auch Deutschland, sind zu klein, um die eigenen Interessen adäquat in der Welt zu vertreten. Gemeinsam sind wir eine der größten Wirtschaftsmächte der Welt und können auf Augenhöhe mit China und den Vereinigten Staaten spielen – wenn wir eine gemeinsame Position vertreten.

Sie repräsentieren mit Deutschland den mächtigsten Mitgliedstaat. Was ist das Besondere daran?

Die Verantwortung für Europa. Als größter Mitgliedstaat sind Sie eigentlich immer und überall mit dabei und tragen eine Mitverantwortung, dass es vorangeht. Als ich 2018 wieder nach Brüssel kam, sagte mir mein Kollege aus Österreich, das damals die Ratspräsidentschaft innehatte, dass er ganz andere Einblicke bekomme. Er meinte dann: "Für euch Deutsche ist das nichts Neues, ihr habt immer Präsidentschaft." Da ist etwas dran, auch was Abstimmungen angeht. Deutschland ist das bevölkerungsreichste Land der EU und hat damit das größte Stimmengewicht.

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Macht die Arbeit dadurch mehr Spaß?

Natürlich, aber das bedeutet auch, dass man mehr Verantwortung hat.

Haben Sie häufig Momente, in denen Sie befürchten, der ganze Laden könnte auseinanderfliegen?

Nicht täglich, aber es gibt solche Phasen. Nach dem Brexit-Referendum hatte ich die Befürchtung, das könnte der Anfang vom Ende sein, als noch unklar war, ob nicht andere den Briten folgen würden. Es wurde vielen dann aber ziemlich schnell klar, dass man besser drinnen als draußen ist.

Während der Finanzkrise wurden die Deutschen oft als arrogant beschimpft, im vergangenen Jahr forderten dagegen viele Mitgliedstaaten mehr Führungsstärke aus Berlin. Kann es Deutschland je richtig machen?

Das kann man als größter Mitgliedstaat letztlich wohl nie. Zu viel Führungsstärke wird nicht geschätzt, dann fühlen sich andere Mitgliedsstaaten leicht übergangen. Wenn man zu wenig Verantwortung übernimmt, kommt das andererseits aber auch nicht an. Wir versuchen immer, eine Mittellinie zu finden, aber sicherlich gibt es Dossiers, wo es heißt, da ist zu viel oder zu wenig Deutschland drin.

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Bedrückt Sie die Häufung von Krisen?

Das macht mir Sorgen, ja. Man fragt sich immer: Hält die Europäische Union das aus? Zu meiner positiven Überraschung ist sie bisher unglaublich geschlossen geblieben. Die Resilienz und Durchhaltefähigkeit waren für mich nicht von Anfang an zu erwarten und haben mich deutlich optimistischer gestimmt. Es gibt den Wunsch, zu 27 Lösungen zu suchen und zu finden.

Woran liegt es, dass die EU in schwierigen Momenten doch stets irgendwie die Kurve kriegt?

Der Brexit hat eine entscheidende Rolle für den Zusammenhalt gespielt. Er ist für Großbritannien so verlaufen, dass niemand Lust hat, diesem Beispiel zu folgen. Das hat die 27 eher zusammengeschweißt. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist uns noch einmal viel bewusster geworden, wie viel Sicherheit Europa uns bringt und dass wir nur ein geopolitisch relevanter Akteur sein können, wenn wir geschlossen auftreten.

Trotzdem ist die EU-Außenwirkung nicht immer die beste. Es wird ständig gestritten, vor Gipfeln herrscht regelmäßig Drama. Braucht es das wirklich?

Ich könnte gut ohne Drama, aber es gibt eben 27 unterschiedliche nationale Politiken, die da zusammenkommen müssen. Die eigenen Befindlichkeiten, die Ausgangssituation, politische und außenpolitische Traditionen – das muss alles unter einen Hut gebracht werden. Die Staats- und Regierungschefs werden zu Hause gewählt und nicht in der EU. Deshalb muss jeder am Ende sagen können, dass man wirklich hart verhandelt hat und als Sieger vom Platz gegangen ist. Es braucht also ein bisschen Drama. Gemeinsam Lösungen zu finden ist natürlich nicht immer ganz trivial.

Befindet sich die EU an einem Wendepunkt? Viele fordern mehr Integration und Reformen, andere eine Rückverlagerung von Kompetenzen in die Nationalstaaten.

Natürlich gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Tatsächlich haben wir in den letzten Jahren gesehen, dass die EU-Verträge zwar nicht verändert wurden, es aber mehr Integration in dem Sinne gegeben hat, dass man der Kommission zusätzliche Aufgaben übertragen hat. Bei den Corona-Impfstoffen haben wir sie etwa gebeten, die Verträge für die Mitgliedstaaten mit den Herstellern zu schließen und für eine gerechte Verteilung zu sorgen. Wir haben also eine rein nationale Kompetenz an die Kommission delegiert. Das passierte zunächst einmal nicht mit dem abstrakten Ziel, mehr Integration zu erreichen. Es handelte sich um reinen Pragmatismus, weil wir das Gefühl hatten, Europa kann es besser als wir national. Das gilt für viele Bereiche.

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Sie sind lange im Geschäft. Welche Erlebnisse sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Hoch emotional ging es beim Migrationsthema zu, als ich 2018 nach Brüssel kam, inklusive Beleidigungen. Da herrschte nicht mehr die gedämpfte diplomatische Atmosphäre, sondern es wurde teilweise sehr laut im Sitzungssaal. Ich habe für die deutsche Präsidentschaft daraus gefolgert, dass ich diese Sitzungen nur in den frühen Morgenstunden mache – ohne Kaffee, um die Emotionen und die Temperatur niedrig zu halten.

Wird tatsächlich herumgeschrien?

Es gibt Akteure, die sich mühelos auch ohne Mikrofon verständigen könnten. Das ist zwar auch eine Frage von Persönlichkeiten, aber nicht nur. Vielmehr zeigt sich dabei, wie umstritten und schwierig bestimmte Themen sind sowie die Verantwortung, die auf den Mitgliedstaaten lastet.

Die Fragen stellte Katrin Pribyl.

Zur Person

Michael Clauß (63)

ist seit August 2018 als ständiger Vertreter Deutschlands bei der EU. Damit ist er kein klassischer bilateraler Botschafter, sondern macht im Rat und bei der EU als höchster deutscher Repräsentant in Abwesenheit des Kanzlers Politik.

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