Am Tag der Bundestagswahl Ende September erschien in der französischen Tageszeitung „Le Parisien“ ein Artikel in einem erstaunten und auch ein wenig bewundernden Tonfall. „Ein Wahlkampf ohne das Wort Islam“, lautete der Titel des Textes, in dem es hieß, die Debatten hätten sich überwiegend um die Verschuldung, den Mindestlohn oder Klimaschutz gedreht.
Tatsächlich wäre das in Frankreich undenkbar. Seit Jahren werden der Umgang mit Muslimen und Einwanderern vor Präsidentschaftswahlen zu beherrschenden Themen gemacht, ja regelrecht dazu aufgebläht. Der rechtsnationale Rassemblement National – früher Front National – von Marine Le Pen gibt es so vor, die konservativen Republikaner ziehen nach.
Damit begonnen hat der konservative Ex-Präsident Nicolas Sarkozy. Er brach mit dem Leitsatz seines Vorgängers Jacques Chirac, mit einem Mann wie Front-National-Gründer Jean-Marie Le Pen, der wiederholt wegen der Verharmlosung von Nazi-Verbrechen und Hass-Provokationen verurteilt worden ist, nicht zu debattieren. Indem Sarkozy noch als Innenminister versprach, er werde die Vorstädte „mit dem Kärcher vom Gesindel säubern“, übernahm er sogar die Sprache der Rechtsextremen.
Heute biedert sich seine bürgerlich-konservative Partei auf bestürzende Weise dem reaktionären parteilosen Journalisten und Bestsellerautor Éric Zemmour an. Bei der internen Vorwahl der Republikaner erreichte der Rechtsaußen Éric Ciotti überraschend die Stichrunde. Auch wenn es zum Sieg nicht reichte, wird die Kandidatin Valérie Pécresse Rücksicht auf die Hardliner nehmen und nach rechts rücken.
Ciotti bekennt sich klar zu seiner ideologischen Nähe zu Zemmour. Dass dieser zweimal wegen Aufstachelung zum Rassenhass verurteilt wurde, nicht zwischen Islam und Islamismus unterscheidet und minderjährige Flüchtlinge pauschal als Diebe, Mörder und Vergewaltiger bezeichnete, schockiert die 13 Prozent der Wähler offensichtlich nicht, die derzeit für ihn stimmen wollen. Das wird eben als Meinungsäußerung präsentiert.
Zemmours Eintritt in das Rennen um das Präsidentenamt im April 2022 ist keine gute Nachricht für Frankreich. Seine Thesen vom nahenden Untergang des Landes infolge einer angeblichen „Masseneinwanderung“ drohen die Debatten zu vergiften. Dabei bezeichnen die Franzosen in Umfragen die Kaufkraft und die Gesundheitspolitik mit Abstand als die wichtigsten Themen.
Echte Gewinnchancen hat Zemmour wohl nicht. Er könnte jedoch Le Pen um den Einzug in die Stichwahl bringen. Indem er sich mit seinen Provokationen massiv Gehör verschafft, erhöht er das Gesamtgewicht der extremen Rechten im Land. Gemeinsam können sie mit bis zu 35 Prozent der Stimmen rechnen.
Doch die entscheidende Phase des Wahlkampfs beginnt gerade erst mit der Kür von Pécresse zur Kandidatin. Die Präsidentin der Hauptstadtregion sagt von sich selbst, sie sei „zwei Drittel Angela Merkel, ein Drittel Margaret Thatcher“. Doch abgesehen vom Pochen auf Haushaltsdisziplin sind wenige Gemeinsamkeiten mit der scheidenden Kanzlerin erkennbar. Als ersten Punkt in ihrem Programm fordert Pécresse den „Stopp der aktuellen Einwanderung“, um „unsere Lebensart zu schützen“. Das klingt mehr nach Le Pen als nach Merkel.
Für Emmanuel Macron ist sie trotzdem keine einfache Gegnerin. Sie verspricht unbequeme Reformen wie jene der Rentenversicherung, die der Präsident nicht durchgezogen hat. Die 54-Jährige tritt gesellschaftspolitisch konservativer auf – das trifft bei vielen einen Nerv. Ob Macron wie 2017 erneut auf die Stimmen vieler Linkswähler setzen kann, ist ungewiss. Doch da sich Sozialisten, Grüne und Linke nicht auf eine gemeinsame Kandidatur einigen können, befinden sich deren Umfragewerte derzeit jeweils im einstelligen Bereich.
Momentan erscheint Macron als klarer Favorit. Dass Frankreich von Januar an die EU-Ratspräsidentschaft innehat, wird er als Bühne für pro-europäische Botschaften nutzen – in der Hoffnung, dass die Themen nicht nur von Zemmour und Le Pen vorgegeben werden. Denn das wäre ein kläglicher Wahlkampf.