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Jesiden im Irak Die schwierige Rückkehr nach Sindschar

Viele Jesiden, die nach einer Flucht zurück in die irakische Stadt Sindschar kommen, stehen vor großen Problemen. Von den Schwierigkeiten, dort Fuß zu fassen und eine neue Existenz aufzubauen.
26.01.2023, 19:10 Uhr
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Die schwierige Rückkehr nach Sindschar
Von Birgit Svensson

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt Tobias Lindner war im Irak. Vom 23. bis 26. Januar. Damit nimmt die Energiepartnerschaft, die der irakische Premier Mohammed Shia al-Sudani kürzlich bei seinem Besuch in Berlin angeregt hat, Form an. Deutschland soll Irak helfen, das bei der Ölförderung anfallende Gas zu gewinnen. „Darüber hinaus werde ich mich über die aktuelle Situation der jesidischen Gemeinschaft im Norden Iraks informieren“, sagte Lindner kurz vor seiner Abreise nach Bagdad. Vor einer Woche hat der Bundestag die Verbrechen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) an den Jesiden gemäß den UN-Statuten als Völkermord anerkannt.

Vor allem was 2014 in Sindschar im Nordwesten Iraks geschah, kommt einem Genozid gleich. Das Gebiet liegt gut 200 Kilometer westlich der Kurdenmetropole Erbil, nahe der Grenze zu Syrien. Von dort kamen die Dschihadisten im Morgengrauen des 3. August und überfielen die Stadt Sindschar und umliegende Dörfer. Sie trieben die Frauen zusammen und brachten die Männer um. In der Stadt lebten damals 88.000 Menschen, die meisten waren Jesiden. In ihrer Not flohen die Familien in die Berge. Tagelang harrten sie dort aus, ohne Wasser und Nahrung in der sengenden Hitze des Sommers. Einige, vor allem Ältere, starben aus Erschöpfung.

USA schickten Wasser und Nahrung

Die Lage wurde immer aussichtsloser. Schließlich griffen die USA in das Geschehen ein, schickten Flugzeuge mit Wasser und Nahrung. Die kurdische Miliz YPG, eine Schwesterorganisation der PKK, bahnte einen Weg über die Berge nach Syrien und in die kurdischen Autonomiegebiete nahe der Stadt Dohuk. Lager wurden errichtet, um die völlig ausgezehrten Menschen aufzunehmen. Nach der Rückeroberung Sindschars fand man ein Massengrab mit den Leichen von 78 jesidischen Frauen. Der Bürgermeister Sindschars sprach von etwa 10.000 Bewohnern, von denen jede Spur fehle: „Man nehme an, dass die meisten ermordet wurden.“ Insgesamt sollen mehr als 200.000 Jesiden aus dem Distrikt Sindschar vertrieben worden sein.

Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Gruppe mit etwa einer Million Mitglieder, deren Hauptsiedlungsgebiete im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei liegen. Ob sie Kurden sind oder eine eigenständige Ethnie, darüber gehen die Meinungen auseinander. Jeside oder Jesidin wird man durch Geburt, wenn beide Elternteile jesidischer Abstammung sind. Über Jahrhunderte waren sie immer wieder Verfolgungen ausgesetzt. Auswanderung und Flucht sind das traurige Schicksal der kleinen Gruppe. Mit geschätzten 250.000 Jesiden hat Deutschland die mit Abstand größte Diaspora außerhalb ihres Siedlungsgebietes. Jüngstes Beispiel brutaler Verfolgung ist das Kalifat des IS von 2014 bis 2017, als Tausende getötet, verschleppt und versklavt wurden. Von den Dschihadisten als „Ungläubige“ bezeichnet, reichte dies als Legitimation, die Jesiden systematisch vernichten zu wollen.

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„Die Lage in Sindschar heute ist unendlich kompliziert“, erklärt Dawood Shamoo die Situation. Er ist Jeside und stammt ursprünglich aus dem kurdischen Dohuk, arbeitet in Bagdad und hat hervorragende Kontakte in den Distrikt Sindschar, wo viele seiner Familienmitglieder lebten, vom IS bedroht und umgebracht wurden. Frau und Kinder hat er während der IS-Herrschaft in Sicherheit nach Deutschland bringen können. „Manche Familien, die in Flüchtlingslagern im Irak untergekommen sind, gehen zurück nach Sindschar, viele haben aber immer noch Angst vor der Rückkehr“, weiß Shamoo. Nur etwa ein Drittel sei zurück. Es gäbe zu viele Machtspiele um die Kontrolle der einstigen Jesidenstadt. Die irakischen Sicherheitskräfte kämpften gegen die kurdische Autonomieregierung in Erbil, die Volksbefreiungskräfte, zu denen auch jesidische Milizionäre gehörten, arbeiteten zusammen mit der kurdischen YPG, die der türkische Präsident bekämpft. „In diesem Chaos wollte die irakische Armee sich positionieren und Stärke zeigen.“ Zwei Tage lang gab es Anfang Juni letzten Jahres eine Militäroperation der irakischen Armee. Allerdings habe dies dazu geführt, dass wieder Jesiden geflüchtet seien, berichtet Shamoo, „weil sie zwischen die Mühlen der unterschiedlichen Kräfte gerieten“. Und im November bombardierte die türkische Armee mehrere Ziele im Irak, darunter auch in Sindschar, wo sie die YPG vermutete, die in Ankara als Terrororganisation gesehen und für einen Anschlag in Istanbul verantwortlich gemacht wird.

Büro in Mossul eröffnet

Unter diesen Umständen sei es natürlich schwierig, Fuß zu fassen und sich eine neue Existenz aufzubauen, sagt Ali Simoqy. Der Jeside stammt aus Sindschar und hat lange für die Uno dort gearbeitet. Zwar habe das Parlament in Bagdad Anfang 2021 ein Gesetz verabschiedet, das die Gräueltaten des IS an den Jesiden als Völkermord anerkennt und ihnen Unterstützungen zusagt, aber die Umsetzung stehe noch ganz am Anfang. Ein erstes Büro, eine Anlaufstelle, sei in Mossul eröffnet worden, ein Online-Portal nimmt Anträge von Überlebenden an, weiß Simoqy. Er habe aber noch nichts von gezahlten Zuwendungen erfahren. Dieses Gesetz gilt allerdings auch für durch den IS verfolgte Christen und andere bedrohte Minderheiten im Irak. Wenn man so will, ist es ein Gesetz zum Schutz von Minderheiten.

Viel wichtiger für die speziell jesidische Gemeinschaft im Sindschar dürfte das Ende Dezember verabschiedete Gesetz über den Besitz von Immobilien sein. Tausende Jesiden bekommen damit das Recht, Land zu besitzen, was ihnen seit 1975 verwehrt war. Denn auch unter dem Regime von Saddam Hussein wurde die Gemeinschaft diskriminiert und ihrer Rechte beraubt. Dieses Immobiliengesetz eigens für Sindschar erlaubt ihnen nun, Grund und Boden in ihrer Heimat zu besitzen. Der irakische Premierminister Mohammed Shia al-Sudani begrüßte die Entscheidung des Parlaments und sieht das Gesetz als ein klares Zeichen der irakischen Regierung zum Schutz „unserer geschätzten jesidischen Gemeinschaft in Sindschar und der Provinz Ninewa“. Zusammen mit der UN-Organisation „Habitat“ soll die Umsetzung erfolgen.

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