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Proteste in Israel Die Zornigen von Zion

Zwar hatte Netanjahu angekündigt, die höchst umstrittene Justizreform zu verschieben. Doch die Proteste in Israel reißen nicht ab.
03.04.2023, 05:00 Uhr
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Von Win Schumacher

Sie sind zurück und wütender als je zuvor. „Schande! Schande!“, ruft die Menge. Und immer wieder, immer lauter: „Demokratie! Demokratie!“ In der zwölften Woche in Folge sind in den vergangenen Tagen Zehntausende Israelis auf die Straße geströmt, um gegen die geplante Justizreform der rechtsreligiösen Regierung Netanjahus zu protestieren. Auch nach Netanjahus Ankündigung, die höchst umstrittenen Pläne auf Eis zu legen, brachen die Proteststürme nicht ab und mündeten mancherorts in Zusammenstößen zwischen Gegnern und Befürwortern der Regierung.

Vor einer Woche war bekannt geworden, dass Benjamin Netanjahu seinen Verteidigungsminister Joaw Galant entlassen wird. Als erster ranghoher Likud-Politiker forderte der ehemalige Generalmajor eine Aussetzung der umstrittenen Justizreform. Netanjahu hatte zuvor bekräftigt, sie gegen alle Widerstände durchpeitschen zu wollen. Für seine Gegner geht es Netanjahu bei der geplanten Schwächung des Höchsten Gerichts vor allem darum, seinen Machterhalt zu sichern. Der Ministerpräsident ist wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt.

Kaum eine halbe Stunde später zogen Protestierende mit Lautsprechern durch die Straßen Tel Avivs und forderten die Bewohner der Stadt auf, erneut auf die Straße zu gehen. Auch diejenigen, die nicht durch Nachrichtenseiten und die sozialen Medien davon gehört hatten, ließen sich nicht lange bitten. Menschentrauben mit israelischen Flaggen und Protestplakaten zogen davon in einem nicht endenden Strom in Richtung der Kaplanstraße, wo an den vergangenen Sonnabenden die größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes stattgefunden hatten. Von dort drängten sie in Richtung des Ayalon Highways, der Hauptverkehrsader im Zentrum Israels.

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„Bibi, geh nach Hause!“, rufen sie. „Bibi ins Gefängnis!“, antworten Sprechchöre. In den vergangenen Wochen wurde der Ayalon Highway immer wieder von Demonstrantengruppen blockiert. An diesem Abend sind es jedoch Tausende, die auf die Autobahn drängen. Vor den zum Stillstand gekommenen Verkehr schiebt sich innerhalb von Minuten ein Fahnenmeer in Weiß-Blau. Viele schwenken Regenbogenflaggen, einzelne rote, schwarze und rosafarbene Fahnen. Dieses Mal sind die Protestierenden jedoch nicht nur mit Bannern und Schildern gekommen. Einige schleppen Holzpaletten auf die Fahrbahn und stecken sie in Brand. Auf der Straße entlädt sich der Zorn vieler Israelis, der sich seit Wochen angestaut hat. Über den Ayalon Highway steigen dichte Rauchwolken auf. Gruppen von in Rosa gekleideten Trommlern geben seit Wochen den Herzschlag der Demonstranten vor. „Wir haben keine Angst“, singen sie.

Es sind vor allem Jugendliche und Studierende, die sich um die Feuer drängen. Einige tragen Karikaturen Netanjahus auf ihren Schildern. Eine junge Frau hält ein Stück Pappe mit der Aufschrift „DICKTATOR“ über die Flammen. Andere Konterfeis auf den Protestschildern zeigen Fratzen der rechtsextremen Parteiführer Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir. Letzterer hatte als einer der ersten in der Regierung den Rücktritt ­Galants gefordert. Beide hatten wiederholt eine harte Durchsetzung der Ziele ihrer radikalen Parteien gefordert, die vor allem in den Siedlungen im Westjordanland unterstützt werden – entgegen aller Forderungen, in der Justizreform zu einem Kompromiss zu finden.

Während ein Protestant ein Holzlattenrost durch die Menschenmenge schleppt und ins Feuer wirft, stimmen einige die Nationalhymne an. „Solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, ein freies Volk zu sein, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem.“ Es folgt ein altes Chanukka-Kinderlied, das inzwischen zu einem Protestlied der Demonstrierenden geworden ist: Banu choshech legaresh (Wir sind gekommen, die Dunkelheit zu verbannen). Die Dunkelheit – das ist für viele längst nicht mehr nur die geplante Justizreform. Sie steht für die gesamte Regierung unter Netanjahu.

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„Israel ist keine Diktatur“, stimmen die Protestierenden immer wieder an. „Das hier ist nicht Ungarn. Das hier ist nicht Polen. Das hier ist nicht der Iran.“ Währenddessen verfolgen viele auf ihren Smartphones die Nachrichten, die über News-Ticker und Whatsapp eingehen. Sämtliche israelische Universitäten – mit Ausnahme der Ariel-Universität im besetzten Westjordanland – sollten am vergangenen Montag geschlossen bleiben. Die Gewerkschaften kündigten einen Generalstreik an.

Wenige Stunden später, nachdem Reiterstaffeln und Wasserwerfer die Protestierer auf den größten Demonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem auseinandergetrieben haben, legen die Proteste des Dachverbands der Gewerkschaften Histadrut den internationalen Flughafen lahm. Einkaufszentren und Kindergärten werden geschlossen. Viele Hightech-Unternehmen schließen sich an.

Präsident Jizchak Herzog rief die Regierung zum Einlenken auf. „Um der Einheit, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort zu stoppen.“ Oppositionsführer Jair Lapid sagte: „Unsere nationale Sicherheit ist in Gefahr, unsere Wirtschaft bröckelt, unsere Außenbeziehungen sind auf dem tiefsten Stand aller Zeiten.“

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 „Heute hören wir auf, still zu sein. Heute erwacht die Rechte“, twitterte derweil Ben-Gvir. Rechte Gruppen rufen zur Gegenwehr auf. Die linksliberale Tageszeitung Haaretz berichtete von Ankündigungen Radikaler, die mit „Traktoren, Gewehren, Messern“ kommen wollten. Zehntausende Regierungsanhänger demonstrieren am Abend in Jerusalem. Gegner und Befürworter der sogenannten Reform warten jedoch weiter auf eine Stellungnahme Netanjahus. Der ruft um kurz vor halb drei zum Gewaltverzicht auf, schweigt jedoch zur geplanten Justizreform. „Wir sind Brüder“, twittert er. Nicht nur für die Demonstranten, die längst erneut von der Kaplanstraße auf den Ayalon Highway drängen, ist es der blanke Hohn.

Am Abend lässt Ben-Gvir entgegen voriger Ankündigungen verlauten, er habe sich mit Netanjahu geeinigt, das Thema erst nach der Parlamentspause wieder aufzunehmen. Dafür erhalte er die Führungsposition über eine „Nationalgarde“, deren Funktion jedoch unklar blieb. Dann meldete sich der Ministerpräsident zu Wort: „Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen.“ Die Justizreform wird damit frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt. Wenn eine Möglichkeit bestehe, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu verhindern, würde er diesem Zeit einräumen, sagte Netanjahu.

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Die Protestierenden nahmen dies keineswegs als Zugeständnis auf. In der Nacht demonstrierten etliche Israeli aufs Neue, errichteten Barrikaden und entfachten Feuer. In Tel Aviv wurden gegen die Protestierer Wasserwerfer und Blendgranaten eingesetzt. In Jerusalem kam es zu Zusammenstößen zwischen Regierungsgegnern, Befürwortern der Reform und Polizei. Eine Gruppe Rechter attackierte einen arabischen Taxifahrer und demolierte sein Auto, bevor er fliehen konnte.

Trotz der Ankündigung Netanjahus, die Justizreform vorübergehend auszusetzen, legte die Koalition eine Gesetzesvorlage vor, mit dem Ziel, die Auswahl der Richter auszugleichen. Dies ist einer der zentralen Kritikpunkte. Die Koalitionsmitglieder stellten ihre Aktion als rein technischen Schritt dar. Die Opposition sah das Vorhaben als klaren Beweis, dass die Regierung keine ernsthafte Absicht für einen Kompromiss habe.

Ob ein wenig Ruhe ins Land einkehren wird, bezweifeln viele Menschen in Israel. Am vergangenen Sonnabend haben erneut mehrere Hunderttausend demonstriert. So befürchten einige Israeli, dass selbst das bevorstehende Pessachfest, der Unabhängigkeitstag und die Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag des Staates als Tage des Zwiespalts und Zorns in die Geschichte des Landes eingehen könnten. Kaum einer hegt die Hoffnung, dass die offensichtliche Spaltung der Gesellschaft rasch überwunden sein wird.

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