Der Zorn ist zurück. In der Tel Aviver Kaplanstraße steht eine Reiterstaffel Hunderten Demonstrierenden gegenüber. Die Menge hält ihre weiß-blauen Nationalflaggen mit dem Davidstern und Regenbogenfahnen den Polizisten entgegen. „Demokratie! Demokratie!“ rufen sie. Und immer wieder: „Wir haben keine Angst! Wir haben keine Angst!“
Eine in rosa gekleidete Trommlerin gibt den Herzschlag der Protestierenden vor. „Wer schützt uns vor der Polizei?“, brüllt einer die in schwarz gekleideten Polizisten an. Die Reiter drängen die Menge zurück. Eine Frau geht vor einem der Pferde zu Boden. „Schande! Schande!“ rufen die Umstehenden und helfen ihr auf.
Ähnliche Szenen, wie sie sich am Dienstag in Tel Aviv, vor dem Parlament in Jerusalem und in anderen israelischen Städten abspielten, gab es seit Jahresbeginn in regelmäßigen Abständen. Am Dienstag, dem „Tag der Störung“, waren die Zusammenstöße noch gewaltsamer als in den Wochen zuvor.
Tausende besetzten im ganzen Land Straßenkreuzungen und Autobahnen. Am Nachmittag versuchten Demonstrierende, auch den internationalen Flughafen Ben Gurion zu blockieren. Auslöser des erneuten Anwachsens der Protestbewegung in den letzten Tagen war vor allem die für Montag angesetzte erste Abstimmung im Parlament zur sogenannten Justizreform.
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Die Knesset hat nach stundenlangen Debatten einen ersten Teil abgesegnet. 64 von 120 Abgeordneten stimmten für eine Klausel, die die Handlungsfähigkeit des Obersten Gerichts beschränken soll. Durch das höchst umstrittene Gesetzesvorhaben strebe Israel in Richtung einer Diktatur, fürchten nicht nur die Protestler. Bereits am Montag demonstrierten Hunderte Gegner der Reform.
Der Zorn vieler Israelis war nie verschwunden
Staatspräsident Jizchak Herzog hatte zuvor zu neuen Verhandlungen aufgerufen und bedauert, dass weder in der Koalition noch in der Opposition Bereitschaft bestünde, zu Gesprächen zurückzukehren. „Inmitten einer tiefen und besorgniserregenden Krise ist es die verantwortungsvolle Aufgabe einer Führungspersönlichkeit, sich hinzusetzen, zu reden und die Einheit Israels über alles zu stellen“, sagte er.
In Wahrheit war der Zorn vieler liberaler und säkularer Israelis seit Jahresbeginn nie verschwunden. In den vergangenen Tagen entlud sich die Wut vieler Israelis auf die rechtsreligiöse Regierung unter Netanjahu immer wieder aufs Neue auf den Straßen Tel Avivs und in anderen Landesteilen. Bildungsminister Joav Kisch sprach von „Terrorismus, dem man sich nicht beugen darf“.
Am Mittwoch und Sonnabend zogen erst Hunderte, dann Zehntausende über die Kaplanstraße in Richtung des Ayalon-Highways. „Ben-Gvir, Terrorist“, riefen sie. Etliche hielten Pappschilder mit Slogans gegen Netanjahu und die Minister seiner Regierung hoch. Neben dem Ministerpräsident gilt besonders Itamar Ben-Gvir, dem Minister für die Nationale Sicherheit von der rechtsextremen Partei Otzma Jehudit, der Zorn der Demonstranten. Der politische Hardliner, Fürsprecher der Siedler und Verfechter der Einschränkung von Minderheitenrechten, wurde in der Vergangenheit wegen der Mitgliedschaft in einer jüdischen Terrororganisation und Volksverhetzung mehrfach verurteilt. Ben-Gvir hatte in den vergangenen Monaten immer mehr Befugnisse in der Polizei gefordert. Nicht nur die Demonstranten sehen dadurch die Unabhängigkeit der Polizei gefährdet.
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Auslöser der spontanen Proteste am vergangenen Mittwoch war zunächst der Rücktritt des beliebten Polizeibezirkschefs von Tel Aviv. Ami Eshed hatte sich immer wieder den Anweisungen Ben-Gvirs widersetzt, gegen die Protestanten mit zunehmender Härte vorzugehen. Er erklärte bei einer Pressekonferenz den Erwartungen des Ministers nicht nachkommen zu können. „Ich hätte leicht unverhältnismäßige Gewalt anwenden können“, sagte Eshed, „wir hätten den Ayalon innerhalb von Minuten räumen können, allerdings um den schrecklichen Preis, dass wir Köpfe einschlagen und Knochen brechen würden. Als Verantwortlicher habe ich Generationen von Polizisten beigebracht, die Grenzen der Gewalt zu erkennen und unseren Vertrag mit der Öffentlichkeit zu schützen.“
Mehr als 100.000 Protestler gingen am Wochenende auf die Straßen
Ruhe und Ordnung seien nicht das gewünschte Ziel gewesen, sondern das Gegenteil, fügte er hinzu. Ben-Gvir und der Chef der israelischen Polizei Kobi Schabtai planten, Eshed zu versetzen, was dieser ablehnte. Ben-Gvir wünschte dem Polizeibezirkschef zum Abschied „großen Erfolg als Kandidat einer linken Partei bei den nächsten Wahlen“. Oppositionsführer Jair Lapid entgegnete, Eshed habe in drei Jahrzehnten unter verschiedenen Regierungen nie politisch Partei ergriffen und lobte den Polizeibezirkschef für seine Professionalität und seinen Einsatz.
Auf dem Ayalon-Highway setzten in der Nacht auf vergangenen Donnerstag Jugendliche Holzpaletten in Brand und schleppten Metallgitter auf die Straße. Fast tausend Menschen blockierten zeitweise beide Fahrtrichtungen. Feuerwerkskörper erhellten die Nacht. Wasserwerfer versuchten, die Protestierenden von der Hauptverkehrsader zu vertreiben.
Am Sonnabend fanden erneut in mehreren Städten Israels Großdemonstrationen statt. Anders als in den Vorwochen, in denen die Zahl der Teilnehmer bei den Protesten etwas zurückgegangen war, waren es am vergangenen Wochenende wieder deutlich mehr. Medienberichte sprachen von mehr als 150.000, die Veranstalter von bis zu 180.000 allein in Tel Aviv.
Auf der größten Kundgebung richtete sich der Historiker und Bestseller-Autor Yuval Noah Harari an die Regierung: „Wir stehen hier – es gibt keinen anderen Weg. Sie haben unsere roten Linien überschritten. Wagen Sie es nicht, sie zu überschreiten. Stoppen Sie den Putsch, sonst stoppen wir das Land. Wir werden auf jede mögliche gewaltfreie Weise Widerstand leisten. Wir werden nicht in der Armee einer Diktatur dienen.“
Den Plänen der Regierung nach soll das Oberste Gericht in Zukunft nicht mehr berechtigt sein, Regierungsentscheidungen wie bisher als „unangemessen“ abzulehnen. Große Teile der Bevölkerung befürchten, dass der regierenden Koalition in der Folge kaum eingeschränkte Machtbefugnisse zuteilwerden und das Land einen Kurs nimmt, in dem nicht nur die Rechte verschiedener Minderheiten gefährdet sind. In den vergangenen Wochen brachten viele Protestierende immer wieder auch ihre Sorge um eine weitere Eskalation der Gewalt in den palästinensischen Gebieten zum Ausdruck.
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Nach dem jüngsten israelischen Armeeeinsatz im Westjordanland, Raketen auf den Süden Israels, Luftangriffen auf den Gazastreifen und einem Terroranschlag in Tel Aviv scheint die Hoffnung auf mehr Frieden so fern wie selten zuvor. Erst in den vergangenen Tagen wurden bei einem Großeinsatz des israelischen Militärs im Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland mindestens 13 Palästinenser und ein israelischer Soldat getötet. Mehr als 100 Menschen wurden verletzt. Dschenin gilt als Keimzelle militanter Palästinenser, von wo aus mehrere Terroranschläge geplant wurden. So fuhr ein palästinensischer Attentäter mit seinem Auto in eine Menschenmenge in Tel Aviv, stach danach auf Passanten ein und verletzte acht teils schwer. Eine schwangere Frau verlor durch den Anschlag ihr Kind. Viele Protestanten machen für die immer weitere Zuspitzung der Gewalt die Regierung verantwortlich. Wenige hegen indes die Hoffnung, dass sich an der aktuellen Lage in nächster Zeit etwas ändern wird.
In der Tel Aviver Kaplanstraße treibt ein Wasserwerfer die Protestierenden auseinander. Doch sie kehren immer wieder zurück. Dutzende werden festgenommen. Die Fernsehbilder und Videos in den sozialen Medien, die über Demonstranten stolpernde Pferde, blutende Gesichter und die „Schande! Schande!“ rufende Menschenmenge zeigen, werden noch lange nachwirken. Sie machen die Spaltung des Landes offensichtlich.
Der „Tag der Störung“ wird längst nicht der letzte Protesttag gewesen sein. Wenn die Regierung die sogenannte Reform weiter unerbittlich vorantreibt, wovon derzeit auszugehen ist, werden noch viele ähnliche Protesttage folgen. Ein Ende des Zorns ist lange nicht in Sicht.