Die Europaabgeordneten sind auf Krawall gebürstet. Seit Anfang des Jahres könnte die Europäische Kommission gegen Mitgliedstaaten vorgehen, die gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen. Doch auch ein Ultimatum der Volksvertreter aus den 27 Mitgliedstaaten, in dem das Team von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die genauen Verfahrensschritte ausarbeiten sollte, ist am 1. Juni verstrichen.
„Der Rechtsstaat in Europa kann nicht warten“, sagte der Grünen-Europa-Abgeordnete Daniel Freund im Vorfeld der Debatte an diesem Mittwoch im Straßburger EU-Parlament, die dann am Donnerstag in der Annahme einer Resolution gipfeln soll. Thema: Das Parlament bescheinigt der Kommission Untätigkeit nach Artikel 265 des EU-Vertrages und verklagt die Behörde vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. „Es kann nicht sein, dass (der ungarische Premier, d. Red.) Viktor Orbán ohne jedwede Sanktion Ungarn in eine Diktatur umbaut“, meinte Freund und geht von einer klaren Mehrheit für den Vorstoß aus. Mit Blick auf die Parlamentswahlen in Ungarn 2022 sei „jede Minute, in der der Rechtsstaatsmechanismus nicht zur Anwendung kommt, ein Wahlkampfgeschenk“ für den umstrittenen Regierungschef.
Eigentlich soll das Schwert, das die Staats- und Regierungschefs im Kontext des Aufbaufonds und dem EU-Haushaltsrahmen bis 2027 geschaffen haben, scharf sein. Im äußersten Fall, so hieß es bei der Verabschiedung in Brüssel, könne einem Mitglied, das die EU-Subventionen nicht zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nutzt, der Geldhahn abgedreht werden. Allerdings sagten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Amtskollegen dem ungarischen und polnischen Premier zu, dieses neue Instrument nicht zu nutzen, ehe der EuGH entschieden habe, ob dieses Vorgehen eigentlich mit den europäischen Verträgen in Einklang steht. Das Verfahren läuft noch, die Kommission zieht sich nur allzu gerne dahinter zurück.
Beratungen verzögern sich
Doch seit Dienstag zweifeln einige EU-Volksvertreter, ob die Resolution der Abgeordneten tatsächlich neuen Druck entfachen kann, um endlich gegen Rechtsstaatssünder in den Regierungszentralen vorgehen zu können. Eine Kronzeugin ist Monika Hohlmeier (CSU), die Vorsitzende des gewichtigen Haushaltskontrollausschusses im EU-Parlament. Sie verweist darauf, dass die Kommission erst in den kommenden Wochen Leitlinien für die Anwendung vorstellen will. Dadurch zögen sich die Beratungen der Volksvertreter weitere zwei Monate hin. Vor September werde nichts entschieden. Erst dann stehen die verfahrensrechtlichen Details, die sicherstellen sollen, dass es „keine parteipolitisch orientierten Verfahren gibt“, zur Abstimmung an, so Hohlmeier weiter. Außerdem müsse garantiert sein, dass die „Belege für Rechtsstaatsverstöße stichhaltig, gerichtsfest und objektiv“ seien. Hohlmeier: „Es wäre eine Blamage, wenn Brüssel ein Verfahren eröffnet, dann aber wegen mangelhafter Beweise scheitert.“
Der komplizierte Weg zur endgültigen Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus wird noch dadurch erschwert, dass lediglich solche Fälle verfolgt werden können, die – so die CSU-Politikerin – nach dem 1. Januar 2022 auftreten oder aber dann noch weiter andauern. Der trotzige Vorstoß der Europaabgeordneten gegen eine Kommission, die offenbar auf Zeit spielt, könnte im Verfahrenswirrwarr untergehen. Denn es kommt noch hinzu, dass Brüssel gehalten ist, jeden Eindruck zu vermeiden, man habe einzelne Demokratie-Sünder im Visier.
Mehrere Länder könnten unangenehme Post bekommen
Die von Hohlmeier beschworene Objektivität verlange, so die CSU-Politikerin, dass das Haus von Ursula von der Leyen stets alle Mitgliedstaaten untersuchen müsse und dann den Regierungen, gegen die es Vorwürfe wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit gebe, eine Mahnung schicke. Spekulationen zufolge könnten neun Länder gegen Ende des Jahres unangenehme Post von der EU-Verwaltung bekommen. Und obwohl die Verfahrensschritte noch nicht im Detail vorliegen, ist bereits absehbar, dass es trotzdem nicht sofort zum Streichen von EU-Subventionen kommt. Zunächst muss den Beschuldigten wohl eine „angemessene Frist“ eingeräumt werden, um die kritisierten Punkte von sich aus zu beseitigen. Dass ein solcher Prozess viele Monate, wenn nicht Jahre dauern könnte, gilt als unvermeidlich.