Wer die politische Landschaft von Arizona verstehen will, muss auf den South Mountain fahren. Von hier oben eröffnet sich ein Panoramablick auf Maricopa County, einen gewaltigen urbanen Siedlungsraum in der Sonora-Wüste. Neben Phoenix gehören auch die florierenden Städte Scottsdale, Mesa, Tempe und Glendale dazu. Fünf der sieben Millionen Einwohner des Südweststaats leben in dem zweitgrößten Wahlbezirk der USA. Hier entscheidet sich maßgeblich, wer die elf Wahlleute-Stimmen des Swing States gewinnt – und ins Weiße Haus einzieht.
Vor den Wahlen am kommenden Dienstag ziehen düstere Wolken über dem „Tal der Sonne“ auf. Das Wahlzentrum in Downtown Phoenix hat sich zu einer uneinnehmbaren Festung verwandelt. In den vergangenen Tagen errichteten Arbeiter drei Ringe aus zwei Meter hohen Metallzäunen und Betonbarrieren, hinter denen bewaffnete Sicherheitskräfte stehen. Der Zugang erfolgt durch Metalldetektoren und vorbei an weiteren Polizisten.
Scharfschützen sichern Wahlzentrum
Schon jetzt überwachen Kameras jeden Winkel des Raums, in dem am 5. November Millionen Stimmen ausgezählt werden. Der Livestream ist rund um die Uhr öffentlich zugänglich. „Wie in einem Naturfilm dokumentiert die Kamera die kleinste Bewegung“, beschreibt Sprecherin Taylor Kinnerup die Sicherheitsvorkehrungen, die am Wahltag noch einmal verstärkt werden. Dann liegen Scharfschützen auf den Dächern, berittene Polizei patrouilliert die Straßen und Drohnen sichern den Luftraum.
„Es fühlt sich dystopisch an“, räumt der Wahlleiter von Maricopa County, Stephen Richer, ein, der seit Monaten für diesen Tag plant. Aber leider sei dies notwendig geworden, sagt der Republikaner, der zehn seiner 140 Mitarbeiter verloren hat. Sie alle machten sich Sorgen um ihre Sicherheit, nachdem rechte Aktivisten Kennzeichen fotografiert hatten, Autos folgten oder vor ihrer Haustür auftauchten.

Stephen Richer, Wahlleiter von Maricopa County
Willkommen am Ground Zero der großen Lüge – Schauplatz von Chaos und Gewalt nach den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren. Damals gab ein Mob hier einen Vorgeschmack, was sich später am 6. Januar 2021 beim Sturm radikaler Anhänger Donald Trumps auf das Capitol in Washington wiederholen sollte.
Auch Bill Gates blickt auf seinem Arbeitsweg regelmäßig in den Rückspiegel. Seit sich der Vorsitzende des Bezirksrats von Maricopa County weigerte, Trumps Behauptungen über die angeblich gestohlene Wahl zu unterstützen, ist der lebenslange Republikaner zur Zielscheibe des Hasses geworden. Rudy Giuliani, der Privatanwalt des abgewählten Präsidenten, rief ihn Heiligabend 2020 an. Er möge dabei helfen, „die Sache in Ordnung zu bringen“.
Drohanruf bei Landrat Bill Gates
Die Botschaft war klar. Trump hatte die Wahl in Maricopa County mit 45.000 Stimmen verloren. Das verhalf Joe Biden zu seinem knappen Sieg mit 10.457 Stimmen in Arizona. Gates sollte die fehlenden Stimmen beschaffen – doch er schaltete wie der republikanische Parlamentspräsident Rusty Bowers auf Durchzug. Trump-Anhänger posten auf Social Media daraufhin Fotos von Galgen. Privat erhielt Gates Drohanrufe. „Wir werden dich aufhängen, du Verräter!“, dröhnt es auf einer seiner Voicemails.

Bill Gates, der Vorsitzende des Bezirksrats von Maricopa County.
Zweimal musste der Sheriff Gates und seine Familie aus dem Privathaus evakuieren und an einen sicheren Ort bringen. Auch jetzt bleibt die Lage angespannt. Der Zugang zu seinem Büro in der obersten Etage des Verwaltungssitzes von Maricopa County führt durch eine Sicherheitsschleuse. Er fühle sich hier oben „sicher“, sagt der besonnene Mann, der so etwas wie ein deutscher Landrat ist. Ein gewähltes Amt, in dem er unter anderem für die Aufsicht seines Wahlleiters zuständig ist.
Besonders schmerzlich ist für den Konservativen, dass die Angriffe aus den eigenen Reihen kommen. Politik sei ein „Kampfsport“. „Aber man erwartet das nicht von Leuten aus der eigenen Partei“, klagt Gates, der enttäuscht ist, Freunde und Weggefährten darüber verloren zu haben. Die Republikaner hätten sich unter Trump radikalisiert. In Arizona sei die Partei von Leuten übernommen worden, „die unsere Demokratie untergraben wollen, indem sie Zweifel an unserem Wahlsystem säen“.
Den Ton geben jetzt Figuren wie Senats-Kandidatin Kari Lake an, die weder Trumps Niederlage 2020 noch ihre eigene bei der Gouverneurswahl zwei Jahre später anerkennt. Zu den Wortführern gehören auch die Wahlleugner Mark Finchem und Abe Hamadeh. Das Staatsparlament und die Abgeordnetengruppe im US-Kongress dominieren heute die Rechtsradikalen des „Freedom Caucus“.

So sah es vor vier Jahren vor dem Wahlzentrum von Maricopa County aus: Trump-Anhänger demonstrierten, unter ihnen auch zahlreiche Bewaffnete mit Sturmgewehren.
Verschwunden sind dagegen Moderate wie Bowers, den die Partei bei den innerparteilichen Vorwahlen für seine Prinzipientreue abstrafte. Ebenso wie Wahlleiter Richer. Nach Ablauf seiner Amtszeit im Januar könnte ein Verfechter der großen Lüge ihn ersetzen. Gates verzichtet freiwillig darauf, eine weitere Amtszeit anzustreben.
Er spricht offen darüber, wie er bis heute unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Bei Aufnahmen zu einer Dokumentation brach er während einer Autofahrt in Tränen aus. Nach- oder aufgeben kommt für ihn vor seiner letzten großen Aufgabe aber nicht infrage. Er werde sich mit voller Energie auf die Durchführung fairer und freier Wahlen in Maricopa County konzentrieren, versichert er in seinem Büro.
Landrat Bill Gates
Gates weiß, dass nicht nur Arizona, sondern die USA und die ganze Welt nach Maricopa County schauen. „Wir sind Ground Zero der Wahlleugner“, bestätigt der Landrat. Auch Wahlleiter Richer schmeißt nicht einfach hin. Er investierte 15 Millionen Dollar in neue Drucker und Sicherheitstechnik für das Wahlzentrum. Im Inneren gibt es nun einen komplett abgeschirmten Raum.
„Wir haben die gesamte Verkabelung offengelegt, damit jeder buchstäblich die Verbindung von Gerät zu Gerät verfolgen kann“, erläutert Kinnerup. Zusätzlich seien Portblocker installiert worden, die garantieren, „dass niemand einfach ein USB-Laufwerk einstecken kann“. Alles sei per Livestream und durch die Anwesenheit von Beobachtern beider Parteien komplett überprüfbar.
Der Wahlleiter bietet Politikern persönliche Führungen an. Laut Sprecherin Kinnerup haben weder der Ex-Präsident noch sein Wahlkampfteam Anfragen gestellt. „Nicht, dass ich wüsste.“ Es sei „bedauerlich“, sagt Kinnerup, „wenn sich Führungskräfte dafür entscheiden, unser Angebot nicht anzunehmen.“
Stattdessen halten die Einschüchterungsversuche an. Ein Richter in Maricopa County ordnete an, aufgrund der Sicherheitslage dürften die Namen von Wahlhelfern nicht veröffentlicht werden. Die Bedrohungen und Schikanen seien „alarmierend und allgegenwärtig“. Ein Grund, warum Richer einen Teil der 3000 freiwilligen Wahlhelfer verlor. Viele Kirchen und Schulen zogen ihre Bereitschaft zurück, als eines der 246 Wahllokale zu dienen.
„Es fühlt sich ähnlich an wie 2022“, vergleicht Landrat Gates die Stimmung heute mit der bei den Kongresswahlen vor zwei Jahren, als es ebenfalls Proteste republikanischer Anhänger gab. Bei Sitzungen des Wahlausschusses patrouillieren schwer bewaffnete Sicherheitskräfte, es werden Notfallevakuierungen geübt. Bill Gates überlässt Spekulationen über die Strategie Trumps anderen und konzentriert sich darauf, dass in Maricopa County alles geordnet verläuft.
Dabei zeichnet sich die „Große Lüge 2.0“ im Fall einer Wahlniederlage des MAGA-Kandidaten schon ab. Trump nimmt dabei die 15 bis 20 Swing Countys in den sieben Swing States ins Visier, die ähnlich wie Maricopa überproportionalen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen haben. Wayne County (Detroit) gehört ebenso dazu wie unter anderem Clark County (Las Vegas), Cobb County (Atlanta), Mecklenburg County (Charlotte) oder Waukesha County (Milwaukee).
Die Republikaner heuerten USA-weit 200.000 „Wahlbeobachter“ an, die vor allem in den Swing Countys Auffälligkeiten dokumentieren und an Anwälte melden sollen. In Schulungen der Partei werden sie systematisch vorbereitet. „Ihr müsst euch als Bodentruppen sehen, als Armee“, schwört der rechte Aktivist Jack Posobiec die Teilnehmer ein. Die Berichte der Beobachter sollen vor allem Material für mögliche Klagen nach der Wahl liefern.

Erste Stimmzettel: Im Maricopa-Wahlzentrum werden bereits die Stimmen von Briefwählern gezählt.
Im Fall einer Niederlage könnte Trump versuchen, die Integrität der Wahlergebnisse gezielt in diesen Countys infrage zu stellen. Das Ziel wäre, den Wählerwillen zu umgehen und die Staatsparlamente Wahlleute aufstellen zu lassen. Damit wäre der Kongress am Zug, in dem die Republikaner eine Mehrheit hätten.
Der MAGA-Kandidat kann sich auf Unterstützung aus der Partei verlassen. Fast die Hälfte aller republikanischen Kandidaten für den US-Kongress verbreitet nach einer Auswertung der "Washington Post" in Wahlkampf gezielt Falschinformationen über die Präsidentschaftswahlen. Bei seinen Anhängern hat Trump ebenfalls den Boden bereitet. Laut einer aktuellen Umfrage des öffentlichen Radiosenders NPR befürchtet eine überwältigende Mehrheit seiner Unterstützer Wahlbetrug. Bei Harris-Anhängern sind es nur knapp ein Drittel.
Landrat Bill Gates
Richer und Gates drücken aufs Tempo. Jeden Tag, den die Auszählung länger dauert, gibt es zusätzlichen Raum für Verschwörungstheorien. Der Landrat hofft, bis zum Freitag nach den Wahlen „95 Prozent der Gesamtstimmen ausgezählt und gemeldet zu haben“. Vermutlich müssten sich die TV-Sender bei einem knappen Rennen für Endergebnisse aus Maricopa noch bis zur darauffolgenden Woche gedulden.
Einschüchtern lassen wollen sich beide Republikaner nicht. Dafür geht es um zu viel. „Die Demokratie steht auf der Kippe“, sagt der Held aus dem „Tal der Sonne“ in seinem Büro. Er werde sich mit aller Kraft gegen Manipulationen stemmen, „egal, wie hoch der persönliche Preis sein mag.“