Am 14. Mai ist Muttertag, und in Bremen wird eine neue Bürgerschaft gewählt. Das sind die beiden Ereignisse, die die Menschen im kleinsten Bundesland an diesem Datum umtreiben dürften. Doch auch global betrachtet hat der zweite Sonntag im Mai eine große Bedeutung. Der Staat Israel feiert seinen 75. Gründungstag, mitten in der vielleicht größten Krise seines Bestehens. Und in der Türkei werden die Wähler ebenfalls an die Urnen gerufen – hier geht es für Demokraten um alles: Eine weitere Amtszeit für Präsident Recep Tayyip Erdogan würde das endgültige Abgleiten in eine Autokratie bedeuten.
Das klingt dramatisch und ist es auch: Es geht um alles. Man muss sich nur anschauen, was Erdogan, der seit 2002 regiert, in den vergangenen Jahren aus dem Land gemacht hat, nachdem er ihm zunächst einen Wirtschaftsboom und sozialpolitische Reformen beschert hatte. Doch nach und nach hat er den Einfluss des politischen Islam gestärkt. Und wo Religion eine Rolle spielt, heißt das immer: Der Irrationalität wird Vorrang vor der Vernunft eingeräumt, der Willkür ist Tür und Tor geöffnet.
Das hat das Land tief gespalten – modern und westlich orientierte Türken werden gezielt gegen die konservative Landbevölkerung ausgespielt. Erdogan hat zudem seinen Führungsanspruch gefestigt, 2018 schaffte er die parlamentarische Demokratie zugunsten eines Präsidialsystems ab. Zudem ist er ein großer Populist, der Verschwörungstheorien nährt, wo er kann und Oppositionelle grundsätzlich in Verbindung mit „Terroristen“ oder, ähnlich schlimm, „ausländischem Einfluss“ bringt. Alle, die sich ansatzweise kritisch äußern, werden mundtot gemacht, ob Kommunalpolitiker oder Pop-Diva. Die längst nicht mehr unabhängige Justiz verordnet dann Hausarrest und Haftstrafen.
Doch trotz aller Einschüchterung: Inzwischen ist nicht nur die gesellschaftliche Stimmung auf dem Nullpunkt angelangt. Auch die wirtschaftliche Situation ist desaströs, hinzukommen die noch nicht absehbaren Folgen des verheerenden Erdbebens vom Februar mit geschätzt 50.000 Toten. Ausgerechnet Erdogan, der seinen Wahlsieg 2002 zu einem nicht geringen Teil dem Missmanagement des Erdbebens von 1999 in der Region um Izmit durch die Vorgängerregierung verdankt, muss sich nun vorwerfen lassen, jahrelang zu sehr mit seinen Freunden von den großen Bauunternehmen gekuschelt zu haben. Die Hilfe für die betroffenen Gebiete läuft zudem eher schleppend.
Viele Türken sind daher schlicht wütend. Vor allem die junge Generation, die der derzeitigen Regierung besonders schlechte Noten ausstellt, hat die Nase voll. Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet von Umfragen, laut denen mindestens 60 Prozent der Wahlberechtigten nicht für Erdogan stimmen wollen, sondern für ein Bündnis aus sechs Oppositionsparteien. Das hat sich auf einen gemeinsamen Kandidaten geeinigt. Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP, hat sein langjähriges Image als farbloser Bürokrat abgestreift, jetzt führt er Protestmärsche an und wird in Sprechchören gefeiert. Kühn zweifelte die Opposition zudem die Rechtmäßigkeit einer dritten Kandidatur des Amtsinhabers an, scheiterte aber erwartungsgemäß vor Gericht.
Wie stehen also die Chancen auf einen Wechsel? Die Opposition hat doch noch mit Spaltpilz-Tendenzen zu kämpfen. Zwei weitere Kandidaten steigen ins Rennen um das Präsidentenamt ein: Muharrem Ince für die Heimatpartei Memleket Partisi, Sinan Ogan für das Wahlbündnis Ata Ittifaki. Ihr Mitmischen könnte mindestens dafür sorgen, dass es eine Stichwahl gibt, wenn kein Kandidat auf Anhieb mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereint.
Und es gibt weitere Unwägbarkeiten. Unterliegt er, müsste Erdogan mit einer Anklage wegen Korruption rechnen. Der Politikwissenschaftler Dimitar Bechev sagte dem Deutschlandfunk: „Wenn er geht, gibt es für ihn zwei Optionen: Exil oder Gefängnis. Für ihn steht also alles auf dem Spiel, und er wird versuchen, an der Macht festzuhalten.“ Ob Erdogan, der 2013 die Gezi-Park-Demonstranten niederknüppeln ließ und dessen Rolle beim Putsch von 2016 undurchsichtig ist, einen friedlichen Übergang zulässt, ist nicht gesagt.