Es war ein mehrseitiges Interview, das Emmanuel Macron ausgewählten Leserinnen und Lesern der beliebten Tageszeitung „Le Parisien“ am Mittwoch gegeben hat. Unter anderem ging es um Frankreichs derzeitigen EU-Ratsvorsitz, die Kaufkraft und die Gesundheitspolitik. Hängen geblieben sind aber nur ein paar Sätze, vor allem jener, er „habe Lust, den Ungeimpften auf den Wecker zu gehen“. Wobei diese Übersetzung sehr milde ist – wortwörtlich lässt sich der vom Präsidenten benutzte Ausdruck „emmerder“ etwa mit „auf die Eier gehen“ oder gar „in die Scheiße reiten“ übersetzen. Macron sagte, er werde die Ungeimpften weder einsperren noch zwangsimpfen, aber ihren Alltag massiv einschränken. Ab dem 15. Januar könnten sie nicht mehr essen, „ein Weinchen trinken“, ins Theater oder ins Kino gehen. Impfgegner machten einen „riesigen moralischen Fehler“, so Macron: „Wenn meine Freiheit jene der anderen bedroht, handle ich verantwortungslos. Und ein Verantwortungsloser ist kein Bürger mehr.“
Darf ein Präsident so reden, derart provozieren, ja spalten? In seiner Silvesteransprache hatte er die Menschen noch dazu aufgerufen, „vereint, wohlwollend, solidarisch“ zu bleiben. Die Aufregung in den Medien und seitens der Opposition ist gewaltig – und das war von Macron so berechnet, dessen Pressedienst das Interview genau so autorisiert hat. Manchmal sind ihm schon unbedachte Sätze herausgerutscht, für die er heftig kritisiert wurde, wie jener über Menschen, die „nichts“ seien. Erst vor drei Wochen entschuldigte er sich in einem Fernseh-Interview für „Worte, mit denen ich verletzt habe“. Diesmal aber handelte es sich um volle Absicht, so wie bei einem Interview im November 2019, in dem er sagte, die Nato seit „hirntot“: Macron will aufrütteln, gerne auch aufregen, zieht die Aufmerksamkeit auf sich.
Auch wenn er immer noch nicht offiziell gesagt hat, ob er sich im April um eine zweite Amtszeit bewirbt, so befindet er sich längst im Wahlkampf. Und angesichts einer Quote von mehr als 90 Prozent der über Zwölfjährigen, die mindestens zweimal geimpft sind, weiß er die große Mehrheit der Französinnen und Franzosen hinter sich. Diese geben den Ungeimpften eine Mitschuld daran, dass in den Krankenhäusern wieder Operationen verschoben werden und angesichts einer Inzidenz von über 2000 neue Einschränkungen drohen. Rund zwei Drittel der Menschen in Frankreich sprechen sich für eine Impflicht aus. Und von den gut fünf Millionen Ungeimpften dürften die wenigsten Macron-Wähler sein.
Beobachter: Macron will Gegenspieler in die Enge treiben
Wie es vorhersehbar war, echauffierten sich seine politischen Gegner. Rechtspopulistin Marine Le Pen bezeichnete Macron als „seiner Funktion unwürdig“. Der Rechtsextreme Éric Zemmour sprach von „offener Grausamkeit“ des Präsidenten. „Das ist nicht angemessen“, kommentierte der Grüne Yannick Jadot. „Beleidigungen sind keine Lösung“, sagte die republikanische Kandidatin Valérie Pécresse.
Beobachter gehen aber davon aus, dass Macron mit seinen direkten Worten seine Gegenspieler in die Enge treiben wollte. Weder Le Pen noch der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon konnten sich bislang zu einem Impf-Appell durchringen. Pécresse wiederum hatte die Abgeordneten ihrer Partei dazu angewiesen, für das gerade verhandelte Gesetz eines Impfpasses zu stimmen, der künftig das Freitesten für den Besuch von Cafés oder Kinos ausschließt. Diese votierten jedoch mehrheitlich dagegen und zeigten so die unklare Linie der Partei auf. Am Donnerstag wurde das Gesetz dennoch in der Nationalversammlung beschlossen. Sein Vorhaben, die Ungeimpften gehörig zu nerven, setzt Macron damit weiter in die Tat um.