Es ist die Gretchen-Frage für jedes Mitglied der Europäischen Union: Wie hält das Land es mit der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie? Wenn Slowenien am 1. Juli die halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft der Union übernimmt, rückt mit Janez Jansa ein Premierminister an die Spitze der Gemeinschaft, der keinen Hehl daraus macht, dass ihm ein liberales demokratisches Staatswesen fremd ist.
Mit Polemik und rüden Attacken überzieht er meinungsfreudige Journalisten, linksliberale Künstler und missliebige politische Gegner. Längst hat er begonnen, Grundfreiheiten zu schleifen. Ein Verständnis von Demokratie, in der Minderheiten geachtet und geschützt werden, Meinungs- und Presse- sowie Versammlungsfreiheit garantiert bleiben, sind für ihn Floskeln. Jansa ist ein Politiker-Typ wie sein ungarischer Amtskollegen Viktor Orbán, der mit seinem Entwurf einer „illiberalen Demokratie“ offenbar Schule macht. In Brüssel nimmt man bestürzt zur Kenntnis, dass solche Vorstellungen Zulauf haben. Und nun soll ein Vertreter dieser Denkrichtung die EU nach außen vertreten? Es fällt schwer, sich dies auszumalen.
Natürlich kann man sich leicht damit trösten, dass nur die wenigsten Ratspräsidentschaften nachhaltige Spuren hinterlassen. Das gelang nicht einmal Deutschland bei jedem Mal. Dafür sind sechs Monate einfach zu wenig, außerdem hat Brüssel vorgesorgt und das Modell sogenannter Trio-Präsidentschaften eingeführt. Dabei schließen sich drei Länder mit aufeinander folgendem EU-Vorsitz zusammen und arbeiten ein gemeinsames Programm aus. In diesem Fall heißt dies: Deutschland, Portugal und Slowenien hatten sich auf Leitlinien verständigt. Aber werden solche Absprachen respektiert? Das Beispiel der ungarischen Politik zeigt: Es sieht nicht danach aus.
Die Union weiß nicht erst seit gestern, dass die Gegner der europäischen Integration Zulauf haben. Jeder Versuch, sie mit dem derzeit vorhandenen Instrumentarium wahlweise zu bestrafen oder wieder auf den Pfad der rechtsstaatlichen Tugenden zurückzuzwingen, scheiterte in der Vergangenheit. Das neue Instrument des Rechtsstaatsmechanismus klingt zwar gewichtig, dürfte aber kaum eine der kritisierten Regierungen wirklich beeindrucken. Es ist nicht nur sperrig, bürokratisch und langwierig, sondern auch nur auf den Tatbestand des Missbrauchs von EU-Geldern ausgerichtet. Damit kann man die Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht verteidigen. Ein Regierungschef allein wird die Anwendung des Mechanismus zwar nicht aufhalten können, aber er kann sie bremsen oder auch verunglimpfen. Das wiegt schwer genug.
Für die Gemeinschaft geht es um ein grundsätzliches Problem. Die Frage, ob ein Land wie Ungarn noch dauerhaft einen Platz in der EU haben kann, steht seit dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in der Vorwoche im Raum. Dort hatte sich Premier Orbán schwere Vorwürfe wegen des Homosexuellen-Gesetzes anhören müssen, das nach Meinung einer großen Mehrheit die Grundrechtscharta verletzt. Derzeit erübrigt sich die Frage, weil die Verträge zwar einen Austritt wie beim Brexit, aber keinen Rauswurf erlauben.
Der Streit mit Budapest – und übrigens auch mit Warschau – um die Achtung und Wahrung demokratischer Prinzipien zwingt – wenn der Rechtsstaatsmechanismus nicht funktioniert – zu dem Gedanken, ob der Rauswurf eines Mitglieds tatsächlich dauerhaft tabu sein kann. Was im Übrigen erhebliche Konsequenzen für die künftige Erweiterungspolitik haben würde, weil man sich potenzielle Kandidaten noch genauer ansehen müsste.
Um es klar zu sagen: Weder Polen noch Ungarn noch ein anderes Land trägt sich mit Abwanderungsgedanken – zumindest nicht offen. Aber die Überlegung, ob die Europäische Union sich nicht vor Zersetzung und Ausbeutung schützen können muss, zieht immer weitere Kreise. Mit jeder weiteren Attacke, von wem auch immer, auf die rechtsstaatlichen Grundsätze der EU bekommt sie mehr Befürworter. Die Gemeinschaft ist längst nicht mehr nur von außen, sondern auch von innen bedroht.