Alexander Jorde: Viele Intensivstationen haben schon vor dem Ausbruch des Coronavirus Betten gesperrt, weil Pflegepersonal fehlt. Die Grundversorgung ist in der Pflege seit Jahren gefährdet. Immer öfter lehnen Kliniken Patienten mit komplexen Erkrankungen ab, weil sie das nicht mehr stemmen können. Wir sind schon lange am Limit.
Wie sehr verschärft das Virus die Situation?Durch das Coronavirus werden wir nun sehr viel mehr Patienten bekommen, aber das Personal wird noch weniger werden, weil sich Mitarbeiter auf den Stationen infizieren oder vielleicht zu Hause auf ihre Kinder aufpassen müssen. Es mangelt schon lange an Pflegefachkräften. Das ist nichts Neues, doch die Hilfeschreie werden seit Jahren überhört. Bei der zusätzlichen Belastung durch das Virus wird sich das nun rächen.
Die Politik lobt, wie gut unsere Stationen ausgestattet sind, zum Beispiel im Vergleich zu Italien. Doch Betten und Beatmungsgeräte retten allein keine Leben. Die Patienten werden nicht von selbst gesund. Die Geräte müssen bedient und die Patienten versorgt werden, das geht nur mit Pflegekräften. Doch die fehlen.

„Betten und Beatmungsgeräte retten allein keine Leben“: Krankenpfleger Alexander Jorde warnt, das Coronavirus könnte den Pflegenotstand weiter verschärfen.
Noch ist die Situation zu bewältigen, aber wir stehen erst am Anfang einer Pandemie. Die Belastung wird dramatisch steigen. Bislang galten die neu eingeführten Personaluntergrenzen zum Beispiel auf der Intensivstation. Dadurch war eine maximale Patientenzahl pro Pflegekraft festgelegt. Gesundheitsminister Jens Spahn hat beschlossen, diese Personalvorgaben aufzuheben. Wir dürfen nun beliebig viele Patienten betreuen. Ich finde es respektlos von Herrn Spahn, dass er das als eine Entlastung verkauft. Für uns ist es alles andere als das.
Warum glauben Sie das?Die Pflegekräfte werden in dieser Pandemie zunehmend in einen Konflikt geraten. Es wird uns Zeit fehlen, die wir brauchen, um die hygienischen Standards einzuhalten und um uns selbst zu schützen. Steigt die Arbeitsbelastung, weil wir mehr Patienten betreuen müssen, wird das Personal immer öfter vor einer eigentlich unlösbaren Wahl stehen.
Was meinen Sie?Wir werden uns fragen müssen, was wichtiger ist: der eigene Schutz oder die Versorgung der Patienten? Vor so einer Entscheidung zu stehen, wird viele zusätzlich unter Stress setzen.
Wie werden Sie sich entscheiden?Der eigene Schutz hat immer Vorrang. Ich kann nur anderen helfen, wenn ich gesund bin und Kraft habe. Wenn ich mich infiziere, falle ich aus. Damit ist niemandem geholfen.
Bislang hatten wir auf meiner Intensivstation noch keinen Engpass. Ich weiß aber nicht, wie es in Zukunft aussehen wird. Entscheidend ist, was dann passiert. Wird man von uns erwarten, dass wir trotzdem in die Patientenzimmer gehen und unsere Gesundheit riskieren? Die politischen Entscheidungsträger ziehen sich zu einfach aus der Affäre. Sie sagen, ihr werdet das schon irgendwie lösen. Man muss antworten: Nein, das werden wir allein nicht schaffen.
Es heißt in diesen Tagen wieder, Pfleger gehörten zu den „systemkritischen Berufen“.Das stimmt. Und ich finde das ein Stück weit zynisch.
Warum?Klammert man die Ärzte aus, dann zählen zu den Berufen, auf die es jetzt besonders ankommt, vor allem schlechter bezahlte Tätigkeiten. Daran erkennt man eine ungerechte Gesellschaft. Die Menschen, die das öffentliche Leben am Laufen halten, sind meist diejenigen, die sich im unteren Bereich der Einkommen befinden. Es fehlt mir an Wertschätzung für diese Menschen außerhalb der Krise. Wir sollten die Pandemie deshalb als Anstoß sehen, um uns zu fragen, was uns solche Berufe in der Gesellschaft wert sind.
Gibt es Menschen, die Ihnen den Vorwurf machen, Sie würden die Krise instrumentalisieren?Ich habe gehört, ich würde nun auf dem Rücken der Patienten einen Konflikt austragen wollen. Es haben mir auch schon Leute gesagt: Bevor ihr Pfleger euch beschwert, heißt es jetzt erst mal anpacken. Dafür habe ich kein Verständnis.
Erklären Sie mal, warum.Solche Aussagen erwecken den Eindruck, wir hätten uns vor Corona ausgeruht. Dabei haben die Angestellten in kaum einem Beruf so viele krankheitsbedingte Fehltage wie in der Pflege. Es gibt kaum einen Beruf, den die Leute so schnell wieder verlassen. Ich kenne Pflegekräfte, die schon mit 25 Jahren ihre Stundenzahl senken müssen, weil sie überlastet sind. Die mit 30 Burn-out haben. Mit 50 einen kaputten Rücken. Das passiert nicht, weil die Pflege ein entspannter Beruf ist. Die Wahrheit ist: Wir können nicht mehr. Das war auch schon vor Corona so. Nun befinden wir uns aber in einer Situation, in der für alle sichtbar werden dürfte, wie viel in der Pflege falsch läuft.
Deswegen sprechen Sie das jetzt an?Ich spreche das immer an, aber nun hören die Leute zu. Viele sagen, wenn das Virus besiegt ist, müssen wir uns darüber unterhalten, was mit der Pflege ist. Doch wenn die Krise vorbei ist, wird das niemanden mehr interessieren.
Auch in der Pflege müssen während der Pandemie arbeitsrechtliche Grundlagen gelten. Es braucht Ruhezeiten, eine maximale Wochenarbeitszeit. Es muss möglich sein, dass wir, die in direktem Kontakt zu Corona-Patienten stehen, uns täglich auf das Virus testen lassen. Und noch etwas.
Was denn?Ärzte verdienen in den Corona-Ambulanzen bis zu 200 Euro pro Stunde. Es geht hier nicht um eine Neiddebatte, aber für 200 Euro muss ich anderthalb Tage arbeiten. Wenn wir eine Zulage fordern, heißt es: Was wollt ihr? Ihr habt euch diesen Job doch ausgesucht. Das kann nicht sein.
Sie wollen mehr Geld?Für die Wirtschaft waren schnell Milliarden da, warum nicht für das Gesundheitssystem? Wir brauchen eine attraktive Gefahrenzulage für Pflegekräfte, damit wir Menschen aktivieren, die schon in der Pflege tätig gewesen sind. Wir werden diese stillen Reserven noch dringender brauchen, als manche gerade glauben.
Das Gespräch führte Nico Schnurr.Alexander Jorde (23) wurde 2017 mit einem Fernsehauftritt in der ARD-Wahlarena bekannt. Im Jahr darauf trat er in die SPD ein. Der Niedersachse arbeitet auf der Intensivstation eines Klinikums in Hannover.