Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Kommentar zum Brexit-Endspurt Boris Johnson präsentiert sich als Zocker

Der Austritt aus der EU ändert nichts an der Tatsache, dass Großbritannien und die EU-Mitgliedsstaaten sowohl Nachbarn als auch Verbündete und Handelspartner bleiben, meint Katrin Pribyl.
24.11.2020, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Boris Johnson präsentiert sich als Zocker
Von Katrin Pribyl

Das sprachliche Bild der tickenden Uhr wurde in den Brexit-Dramen der vergangenen Jahre so häufig bemüht, dass es ausgeschöpft erscheint. Dabei passt es jetzt mehr denn je. Der ultimative Stichtag ist am 31. Dezember. Dann läuft die Übergangsphase aus, in der wirtschaftlich de facto alles gleich blieb in der Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU.

Aber was kommt oder vielmehr droht Europa im neuen Jahr? Scheitern die Gespräche und gibt es einen von Unternehmen befürchteten harten Bruch mit steigenden Zöllen, Grenzkontrollen, Chaos, Lkw-Staus und großem bürokratischem Aufwand? In London wie in Brüssel herrscht vorsichtiger Optimismus, dass sich die beiden Verhandlungspartner auf den letzten Metern doch noch auf ein Freihandelsabkommen einigen können.

Lesen Sie auch

Aber auch wenn ein Vertrag als wahrscheinlich gilt, gewiss ist dieser Ausgang keineswegs. Dieser würde auf der Annahme basieren, dass die beiden Partner logisch und rational an die Geschichte herangingen. Nach diesem Denkmuster versteht es sich beinahe von selbst, dass von einem Abkommen die 27 EU-Mitgliedstaaten wie auch Großbritannien profitieren würden. Die Schlussfolgerung aber, dass es deshalb zu einer Einigung kommen müsse, ist falsch. Die Verhandlungen werden insbesondere von britischer Seite weniger von Vernunft denn von Emotionen geleitet. Das Versprechen von Unabhängigkeit, Souveränität und Kontrolle übertrumpft den gesunden Menschenverstand. Andernfalls hätte Premierminister Boris Johnson im Juni die Übergangsphase verlängert, schon deshalb, weil die Welt gerade gegen eine Pandemie kämpft.

Inmitten der Covid-19-Krise das künftige Verhältnis zwischen der EU und dem Königreich neu zu definieren, galt stets als Harakiri. Das zeigt sich nun erneut, da wegen eines positiven Coronavirus-Tests in der EU-Delegation die Gespräche vorerst nur virtuell fortgesetzt werden können. Ausgerechnet in dieser kritischen Endphase fehlt der direkte persönliche Kontakt.

Lesen Sie auch

Auch wenn vordergründig stets die Knackpunkte angeführt werden, die sich um die Garantien für einen fairen Wettbewerb, die Frage der Aufsicht über das Abkommen sowie um das sensible Thema der Fischerei drehen: Dass es bislang nicht zum Durchbruch kam, hat vor allem politische Gründe, denn die technischen Fragen könnten in bilateralen Verhandlungen gelöst werden. Johnson aber präsentiert sich als Zocker. Und die EU sträubt sich ebenfalls, nachzugeben. Wer zuckt zuerst? Wer kann am Ende für sich beanspruchen, die andere Seite bezwungen zu haben? Der britische Regierungschef will vor dem Volk, aber vor allem vor den konservativen Hardlinern den starken Mann und Macher markieren. Das Land taumelt derweil in Richtung Abgrund.

Die Europäer auf der anderen Seite des Ärmelkanals haben mittlerweile genug von den Faxen, obwohl auch sie nur verlieren können. Man bereite sich auf das No-Deal-Szenario vor, heißt es gebetsmühlenartig. Doch es ist völlig klar, dass insbesondere Staaten wie Irland, aber auch Frankreich, die Niederlande und Dänemark leiden würden, sollte man sich nicht einigen. Eine Katastrophe aber wäre es nicht. Zum einen liegt bereits das ratifizierte Austrittsabkommen auf dem Tisch, das Bereiche wie etwa die Nordirland-Frage und die Bürgerrechte abdeckt. Zum anderen kann es sich bei der möglichen Handelsvereinbarung aufgrund der knappen Zeit ohnehin nur um ein äußerst dünnes und oberflächliches Abkommen handeln.

Lesen Sie auch

Dennoch: Bei einem Scheitern würden im Januar die Schuldzuweisungen beginnen. Eine unschöne Vorstellung. Die Atmosphäre zwischen den Partnern wäre vergiftet, die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen denkbar schlecht. Dabei werden die Gespräche weitergehen, auch wenn die Brexit-Anführer meinen, ab dem 1. Januar sei das Thema EU-Austritt erledigt. Mit einem Abkommen würden sie nur unter weitaus positiveren Vorzeichen stattfinden. Und das ist umso bedeutender, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Großbritannien und die EU-Mitglieder sowohl Nachbarn als auch Verbündete und Handelspartner bleiben.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)