Die Krise und ihre Folgen kehren nicht nur die besten Seiten des Menschen hervor. Das allein ist nicht weiter besorgniserregend, weil es schon immer so war. Doch wer glaubt, das Virus sei quasi ein guter Lehrmeister in Sachen Rücksicht- und Anteilnahme, Toleranz und Nächstenliebe, hat möglicherweise etwas zu viel Rosamunde Pilcher gelesen. Nicht nur Hamsterkäufe und die Ausgrenzung von Senioren nach Art des grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer lassen tief blicken, sondern auch der selbst ernannte Zuwachs, den Ordnungshüter über Nacht zu verzeichnen haben. Wenn Werder spielt, sitzen Hunderte Trainer am Rand oder vorm Fernsehgerät. Wenn Kontaktsperren und Verbote verhängt, Verhaltensregeln und Beschränkungen verordnet werden, schlägt die Stunde der Hilfspolizisten.
Der Deutsche gelte als „regelbesessen“, notierte die „Zeit“ unter der Überschrift „Wir Zwangsgestörten“ bereits, als an Kontaktsperren nicht zu denken war. Die Wochenzeitung zitierte aus einem Artikel der „New York Times“: „Jeder, der jemals Zeit in Deutschland verbracht hat, ist baff angesichts der reflexhaften Regelbeachtung, der tadellosen Ordnung seiner vielen kleinen Städte.“ Klingt unsympathisch, ist es aber nicht. Regeln sind Leitplanken für das Miteinander. Das Problem ist nur: Wer Regeln schätzt, ist meist nicht nur darauf bedacht, sie selbst einzuhalten, sondern hat auch ein Auge darauf, dass es andere tun. Das gilt beim Einfädeln in den Verkehr, beim Anstellen an einer Schlange, bei der Sonntagsruhe und bei der Sperrstunde. Wenn es wegen echter oder vermeintlicher Regelverletzungen schon zu Auseinandersetzungen um einen Parkplatz kommt, steht das Schlimmste zu befürchten, wenn es um die Gesundheit geht.
Dafür ist es bislang erstaunlich friedlich geblieben: Zwar wurden anfangs Senioren, die sich aus dem Haus trauten, angeguckt, als trügen sie das Wort lebensmüde auf der Stirn. Eltern, die sich mit ihren Kindern in den Supermarkt wagten, wurden weitläufig umrundet wie Todesengel. Inzwischen werden dort gelegentlich andere angeraunzt, wenn sie jemandem zu nah auf die Pelle rücken. Wer ohne Mund-Nasen-Schutz in der Straßenbahn sitzt, wird gemustert, als hätte er gerade ein Fleischermesser gezückt. Es stimmt schon: Es liegt in der Natur der Pflicht, nicht auf Freiwilligkeit zu basieren. Aber Unmaskierte anzustarren, als brächten sie höchstpersönlich den Tod, scheint etwas übertrieben – nachdem man wochenlang so unverhüllt wie unbehelligt mit Bus und Bahn unterwegs sein konnte.
Denunziantentum macht nicht nur Angst, sondern auch sehr traurig
Nicht alle Angehörigen der Gesundheitspolizei werden selbst tätig. Die „Frankfurter Rundschau“ berichtete im April von einem „Blockwart-Boom“ und begründete diese Einschätzung so: „Allein in Baden-Württemberg gab es innerhalb von zwei Tagen 3000 private Anzeigen wegen Verstößen gegen die Kontaktsperre.“ In Schleswig-Holstein wurden Zettel mit dem Hinweis „Sie sind hier unerwünscht!“ hinter Scheibenwischer von Autos mit auswärtigem Kennzeichen gesteckt, in Mecklenburg-Vorpommern Reifen zerstochen. Landesinnenminister Lorenz Caffier sagte dem NDR: „Das Denunziantentum, das zum Teil in der Tat stattfindet, macht nicht nur Angst, sondern macht mich auch sehr traurig.“
Traurig mag das sein, aber keine Überraschung. Wenn Bürger von heute auf morgen mit strengen Auflagen konfrontiert werden, die ihnen Umstände bereiten, scheinen sie sie leichter zu ertragen, wenn sie sich ihnen im Kollektiv beugen. Anderen mehr Freiheiten gönnen zu können, ist nicht jedermanns Stärke. Oder, in Abwandlung eines bekannten Sprichworts: „Was ich gerne tät’, aber nicht tu, das steht auch keinem anderen zu.“
Auch die Berliner Polizei twitterte von Einsätzen durch Hinweise: „Ein Anrufer aus #Neukölln meldet mehrere Jugendliche, die auf einer Bank rauchen, grillen und abhängen. Als Risikopatient fühlt er sich besonders gefährdet.“ Die Bremer Polizei kennt das, will aber nichts von Denunziantentum im großen Stil wissen: „Für die Polizei ist dies kein Anschwärzen. Viele unserer Einsätze fußen auf solchen Hinweisen. Wir sind darauf angewiesen. Es gilt die Menschen zu schützen“, teilte die Pressestelle mit. Belastbare Zahlen gebe es nicht, „es dürften aber nur wenige Fälle sein“.
Die Greifswalder Polizei ging die Sache pädagogisch an. „Bitte habt euch lieb“ verbreitete sie via Facebook. Das ist ein frommen Wunsch, keine behördliche Anordnung. Sonst hätte sich wohl jemand gefunden, der die Polizei verständigt hätte, sobald irgendwo ein böses Wort gefallen wäre.