Die Deutsche Bahn, das weiß man auch im Staatskonzern sehr gut, sollte vorsichtig sein mit Scherzen über Pünktlichkeit. Dieser eine aber saß, nicht nur wegen der charmanten Selbstironie. Als Regierungssprecher Steffen Hebestreit im April ankündigte, der Kanzler werde nun auch bei Tiktok mitmachen, und als Olaf Scholz kurz darauf in einem ersten Video über seine Aktentasche plauderte, gab es viel Kritik am vermeintlich banalen Inhalt des Kanzler-Beitrags und noch mehr an der Tatsache, dass die Bundesregierung überhaupt die von einer chinesischen Firma betriebene Plattform bespielt. Doch keiner brachte es auf den Punkt wie das Social-Media-Team der Deutschen Bahn in einem Tiktok-Kommentar: „Besser spät als nie.“
Dass der Kanzler wie auch andere Politiker erst 2024 eines der seit Jahren reichweitenstärksten Netzwerke bespielen, ist nichts anderes als grob fahrlässig. Sicherlich war es angebracht, Datenschutzrisiken abzuwägen, gilt Tiktok einigen Experten doch als Spionageinstrument der chinesischen Regierung. Grünes Licht gab es unter der Voraussetzung, dass die Plattform nur von Geräten gesteuert wird, auf denen keine sensiblen Inhalte gespeichert sind. Eine Erkenntnis, von der man sich wünschen würde, dass sie ein deutscher Regierungsapparat schneller gewonnen hätte. Denn Tiktok erreichte schon Millionen von deutschen Nutzern, da war die Ampel-Regierung überhaupt noch nicht gewählt.
Schon 2017 gewann die AfD den Social-Media-Wahlkampf
Dennoch greift es zu kurz, Tiktok allein verantwortlich zu machen für den Rechtsruck unter jungen Wählern, den man zuletzt bei der Europawahl und in mehreren Studien beobachten konnte. Eine Erhebung des Politikberaters Johannes Hillje vom Anfang dieses Jahres zeigt, dass die AfD auch in anderen Netzwerken um ein Vielfaches mehr Menschen erreicht als alle anderen großen Parteien. In Zahlen: Die AfD hatte im Dezember 2023 mehr als eine halbe Millionen Facebook-Abonnenten, die SPD nicht mal 200.000. Bei Youtube folgten der AfD 241.000 Nutzer, der CDU nicht mal ein Zehntel davon. Und auf Instagram reagierten im Schnitt doppelt so viele AfD-Follower auf Beiträge der Partei als es etwa bei Grünen und Linken der Fall war.
Ein Rückstand, den man nie im Leben so groß hätte werden lassen dürfen. Schließlich galt es schon nach der Bundestagswahl 2017 als erwiesen, dass die AfD ihren Wahlerfolg zu einem nicht geringen Anteil ihrer Stimmungsmache auf Facebook und Twitter zu verdanken hatte. Und dass sich ein Großteil junger Wählerinnen und Wähler vorrangig in den sozialen Medien über Politik informiert, ist ebenfalls alles andere als neu. Der „umfassende digitale Aufbruch“, den die Ampel-Regierung bei ihrem Start versprach, stockt auch an anderen Stellen. Doch an kaum einer anderen Baustelle hat sie so sehr geschlafen wie an ihren virtuellen Wahlkampfständen.
Was allerdings auch zur Wahrheit gehört: Populisten haben es in den sozialen Medien deutlich leichter. Wer einfache Antworten auf komplexe Fragen und plumpe Angriffe auf die Gegenseite veröffentlicht, erzeugt mehr Emotion, mehr Diskussion, mehr Likes. Und weil Betreiber sozialer Netzwerke in erster Linie an Geld interessiert sind und eher wenig an ausgewogener Meinungsbildung, belohnen die Algorithmen von Tiktok, Facebook und Co. all jene mit großen Reichweiten, die viel Schwarz und Weiß anbieten statt die Grautöne der Realität.
Allerdings wirft auch das ein Licht auf jahrelang vernachlässigte Aufgaben der jüngsten Regierungen: Soziale Netzwerke werden seit jeher kaum in die Verantwortung genommen für die Inhalte, die sie verbreiten. In Schulen und Unis wird der kritische Umgang mit digitalen Medien allenfalls nebenher gelehrt. Und auch wenn sich eine Partei im Netz nicht mit dem Getöse der AfD hervortun will, braucht es eine emotionalere Ansprache von Nutzern, als es die meisten der auswendig gelernten Statements für den Berliner Polit-Alltag bieten können.
Zusammengefasst: Es geht darum, gute Politik zu machen für die Lebenswelt junger Menschen. Diese ließe sich sicherlich auch auf Tiktok sehr gut verkaufen.