In der Ukraine haben die Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und der Polizei mehrere Todesopfer gefordert. Gespräche zwischen Präsident Viktor Janukowitsch und der Opposition sind gescheitert. Die Demonstranten radikalisieren sich zunehmend.
Von den Kämpfern der „Berkut“-Polizeitruppen ist Bogdan kaum zu unterscheiden. Schwarzer Helm mit Visier und Nackenschutz, Schutzschild aus Aluminium, Knüppel am Gürtel, schwarze Plastikschoner an den Schienbeinen – so steht er auf dem Kreschtschatik, der zentralen Straße in Kiew. Doch Bogdan ist kein Polizist. Der drahtige 22-Jährige gehört zum militanten Flügel der pro-europäischen Demonstranten. Die Teile der Polizei-Ausrüstung sind Beutestücke aus den Straßenschlachten der vergangen Tage.
„Den Schutzschild kannst du ihnen am leichtesten wegnehmen“, erzählt Bogdan grinsend, „einfach oben an der Kante anfassen und kräftig zur Seite reißen – dann verdrehst du dem Polizisten den Arm und er lässt los.“ Der junge Mann aus dem westukrainischen Sumi kennt sich bestens aus: Er hat seinen Wehrdienst bei den Truppen des Innenministeriums absolviert. Doch wie viele junge Ukrainer hat sich Bogdan längst von diesem Staat losgesagt.
Bereits zum vierten Mal ist er nach Kiew gereist, um gegen Präsident Viktor Janukowitsch zu demonstrieren. „In den Kämpfen mit der Polizei habe ich schon einiges abbekommen, aber Angst habe ich nicht“, sagt er. „Alles andere als Gewalt hilft doch nicht mehr.“ Bogdans Kumpel Anatoli, der gerade an einer Gasmaske herumnestelt, pflichtet ihm bei: „Zwei Monate haben wir hier friedlich demonstriert – ohne irgendein Ergebnis.“
Aus ihrer nationalistischen Gesinnung machen die beiden keinen Hehl: Sie sammeln Geld für eine Organisation namens UPA, benannt nach der Ukrainischen Aufstandsarmee, deren Partisanen im Zweiten Weltkrieg die Rote Armee bekämpften und zeitweise mit der Wehrmacht kollaborierten.
Es sind zunehmend Leute wie Bogdan und Anatoli, die das Bild der Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz dominieren. Eine Bewegung, die sich „Rechter Sektor“ nennt, hat die Führung übernommen. Verschwunden sind die Grüppchen fröhlicher Revolutionstouristen, die ihre Fähnchen und Losungen an Angelrouten schwangen. Verschwunden auch die meisten Frauen. Nun sind hauptsächlich junge Männer unterwegs. Sie tragen Stahlhelme, Bauarbeiterhelme, Motorradhelme und Eishockeyhelme. Und sie wollen sich mit Taucherbrillen und Skibrillen gegen das Tränengas schützen, das die Polizei verschießt. Die meisten dieser Männer haben sich bewaffnet: Tischbeine, Baseballschläger, Spitzhacken, Äxte und Nunchaku-Stöcke – so ziehen sie in den Kampf. „Ist ein bisschen wie Krieg“, sagt zufrieden ein schlaksiger Demonstrant und klopft auf seine kugelsichere Weste aus alten Armeebeständen.
Die Front liegt an der Gruschewski-Straße, die zum Regierungsviertel führt. Hier, etwa dreihundert Meter vom Unabhängigkeitsplatz entfernt, liefern sich auch am Mittwoch den ganzen Tag über radikale Demonstranten heftige Straßenschlachten mit den „Berkut“-Einheiten. Am Morgen sterben zwei Männer: Sergej Nigojan (20) aus Dnepropetrowsk und ein möglicherweise aus Weißrussland stammender Demonstrant werden von den Kugeln eines Unbekannten getroffen, der aus dem oberen Stockwerke eines Gebäudes gefeuert hat. Regierung und Opposition geben sich gegenseitig die Schuld. Der Arzt Oleg Mussi, der den medizinischen Versorgungspunkt der Opposition leitet, spricht sogar von fünf Toten. Vier von ihnen sollen Schusswunden erlegen sein. Ein fünfter Demonstrant starb, nachdem er beim Gerangel mit Polizisten am Stadion von einem Geländer gefallen war.
Die Tatsache, dass es nun auch Todesopfer gibt, radikalisiert die Demonstranten noch mehr. Als am Mittag die „Berkut“-Kämpfer versuchen, die Demonstranten von der Gruschewski-Straße auf den Unabhängigkeitsplatz zurückzudrängen, sind sie nur für kurze Zeit erfolgreich. Bald preschen die Regierungsgegner vor. Unter einem Hagel von Pflastersteinen, Feuerwerkskörpern und Molotow-Cocktails ziehen sich die Polizeieinheiten wieder zurück.
Unterdessen verhandelt Präsident Viktor Janukowitsch drei Stunden lang mit Vertretern der Opposition. Doch seine Gespräche mit dem Boxweltmeister und Oppositionsführer Vitali Klitschko, dem Franktionschef Arseni Jazenjuk von Julia Timoschenkos „Vaterlands“-Partei und dem Nationalisten Oleg Tjagnibok enden ohne Ergebnis. Janukowitsch habe keinerlei Bereitschaft gezeigt, auf die Forderungen der Oppositionsführer einzugehen, sagt Tjagnibok danach. „Als uns das klar wurde, haben wir uns verabschiedet und sind gegangen.“