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Stimmung gegen Erdogan Der "Sultan" steht recht nackt da

Langsam wird es eng für den türkischen Präsidenten: Die Verhaftung seines Gegners Imamoglu führt zu Massenprotesten, aber noch mehr empört und bedrückt seine Landsleute der wirtschaftliche Niedergang.
02.04.2025, 05:00 Uhr
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Von Joerg Helge Wagner

Wer in diesen Tagen durch die Türkei reist, bekommt die Stimmung im Land von Deutsch sprechenden Einwohnern auch ohne ausdrückliche Nachfrage vermittelt: Sie ist mies. Und ohne Scheu wird der Schuldige eindeutig benannt: "Herr Präsident" oder auch "unser Sultan" heißt es dann, allein den Namen Erdogan nimmt man ungern in den Mund. Der Unmut war schon da, bevor Erdogans populärer, aussichtsreicher Gegenkandidat Ekrem Imamoglu unter fadenscheinigen Vorwürfen des Amtes enthoben und verhaftet wurde. Der Schlag gegen den Istanbuler Bürgermeister brachte lediglich das Fass zum Überlaufen, trieb die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straßen der großen Städte.

Kurz zuvor war die türkische Lira erneut abgewertet worden: Bekam man Anfang März noch 38 Lira für einen Euro, waren es Ende des Monats schon 41. Ein Wertverlust von fast acht Prozent binnen 31 Tagen. Längst ist der Euro die überall viel lieber akzeptierte Ersatzwährung, so wie einst die D-Mark in jenen Staaten, welche aus der Konkursmasse Jugoslawiens oder der Sowjetunion erwuchsen. Egal, ob man nur Süßigkeiten und Tee kaufen will oder eine Lederjacke, gar ein Schmuckstück: Geldumtausch ist nicht nötig. Im Gegenteil – wer partout in der Landeswährung zahlen möchte, muss ein zweites Mal verhandeln.

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Sicher, es herrscht keine Mangelwirtschaft, die Läden sind voll. Und in Marmaris, Denizli, Aydin oder Seldcuk sieht man auch nicht mehr Bettler auf den Straßen als in der Bremer Innenstadt. Im Westen des Landes gibt es immer wieder Autobahnstrecken, die in besserem Zustand sind als hierzulande – was aber nicht verwundert, denn sie werden kaum befahren. Die Mautgebühr ist vielen Türken schlicht zu teuer.

So verfehlen viele Prestigeprojekte, mit denen Recep Tayyip Erdogan sein Volk beeindrucken wollte, ihre Wirkung: der neue riesige Istanbuler Flughafen, der Bosporus-Entlastungskanal, ein Flugzeugträger für unbemannte Luftfahrzeuge, das erste Kernkraftwerk des Landes. Letzteres liegt in einem Erdbebengebiet, entsteht in Kooperation mit Russland und kommt wegen des Technologie-Embargos nach dem Überfall auf die Ukraine nicht voran.

Viele ehrgeizige Ziele, die der Präsident nach seiner Wiederwahl Ende Mai 2023 benannt hat, erscheinen utopisch. Wirtschaftswachstum von 5,5 Prozent für die Jahre 2024 bis 2028: Als realistisch gelten eher drei Prozent. Arbeitslosigkeit auf sieben Prozent senken: Experten rechnen mit neun bis zehn Prozent. Exporte im Wert von 400 Milliarden Dollar bis 2028: Die schwache Lira müsste türkische Exporteure begünstigen, und 2024 war mit fast 262 Milliarden Dollar auch ein Rekordjahr – gleichzeitig verteuert sich jedoch die Einfuhr von Rohstoffen und Vorprodukten, was die importabhängige Industrie belastet. Industriegüter wiederum sind inzwischen die wichtigsten Exportartikel der Türkei. Es ist also oft "rechte Tasche, linke Tasche", und vielen Türken dämmert, dass der "Sultan" trotz aller Beschwörung osmanischer Pracht recht nackt dasteht.

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Hinzu kommt die allgemeine Unterdrückung, die seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 anhält. Auch nach den jüngsten Protesten gab es Tausende Festnahmen und Hunderte Verhaftungen, absehbar werden an diesem Mittwochabend etliche hinzukommen. Frustrierend ist für die Opposition mit Blick auf Europa die Erdogan-Treue vieler Auslandstürken, aber auch die Leisetreterei der hiesigen Regierungen. CDU-Politiker Armin Laschet, der als künftiger Außenminister gehandelt wird, hat jüngst den Grund dafür genannt. Die Türkei wird schlicht gebraucht: als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine, in der Migrationspolitik, als starker Nato-Partner mit Grenzen zu Syrien, Irak, Iran.

Ihren inzwischen ungeliebten, islamistisch gefärbten Präsidenten müssen die Türken also alleine wieder loswerden. Jüngstes Zeichen subtiler Opposition: Plakate, Fahnen, Banner mit dem Porträt des dezidiert weltlich-westlichen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Der 1938 Verstorbene überstrahlt immer noch den Talmi-Glanz des Pseudo-Sultans.

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