Vermutlich entging dem Präsidenten der symbolische Kontext seiner folgenschweren Entscheidung. Das „Wall Street Journal“ berichtete am Vorabend des 76. Jahrestags der Invasion der Normandie, der Nationale Sicherheitsberater im Weißen Haus Robert O’Brien habe ein Memorandum unterzeichnet, das dem Pentagon den Auftrag erteilt, bis September 9500 Soldaten aus Deutschland abziehen und die Zahl der anwesenden Truppen auf 25.000 Soldaten zu begrenzen.
Deutsche Politiker sollten sich nicht einreden, dies sei nur der übliche Theaterdonner oder dass es die amerikanischen Generäle aus eigenem Interesse schon richten würden. Dies wäre eine der Fehleinschätzungen, die im Umgang mit dem transatlantischen Abrisskommando im Weißen Haus mehr auf das Prinzip Hoffnung als auf die Entwicklung einer eigenen Sicherheitsstrategie gesetzt haben. Machen wir uns nichts vor: Die am Vorabend der Invasion amerikanischer Truppen zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus durchgesickerte Entscheidung ist ein D-Day im Rückwärtsgang.
Pandemie, Proteste und Arbeitslosigkeit als Antreiber
Ob Geschichtsvergessenheit, Hohn oder Unfähigkeit hinter dem taktlosen Timing steht, es verleiht der nicht mit der deutschen Regierung abgestimmten Ankündigung hohe Symbolkraft. Wie Stürme einst die Ankunft der amerikanischen Befreier in der Normandie behinderten, treiben sie den Rückzug nun an. Aber diesmal handelt es sich um politische Unwetter, die einen von Pandemie, Massenarbeitslosigkeit und Protesten in Amerikas Städten überforderten Präsidenten blind um sich schlagen lassen.
Trump droht seinem eigenen Volk, das gegen strukturellen Rassismus und Polizeigewalt protestiert, mit dem Militär, wie er den wichtigsten Alliierten in Europa dafür bestrafen will, bei einer riskanten Propaganda-Show nicht mitzumachen. Die Rede ist von der Absage der Bundeskanzlerin, mitten in der nicht kontrollierten Covid-19-Pandemie zu einem G-7-Gipfel ins Weiße Haus zu kommen. Trump legte verärgert den Telefonhörer auf, weil Merkel ihm nicht helfen wollte, so zu tun, als sei der tödliche Erreger unter Kontrolle und alles wieder normal.
Das war der Moment, auf den Wladimir Putin über Jahrzehnte hingearbeitet und gehofft hat. Mit Trump hat er einen Erfüllungsgehilfen gefunden, der die Supermacht im Inneren schwächt und einen Keil zwischen die USA und Europa treibt. Dass der US-Präsident wenige Tage vor der Entscheidung mit seinem Ratgeber aus dem Kreml sprach, mag bloß ein Zufall sein. Der Beifall des russischen Präsidenten ist ihm jedenfalls gewiss. Amerikas Generäle dagegen sind zum zweiten Mal binnen einer Woche entsetzt. Trump versteht nicht, dass die US-Streitkräfte nicht dafür da sind, die Rede- und Versammlungsfreiheit in den USA zu unterdrücken, sondern die Verfassungsrechte nach außen zu verteidigen. Ebenso begreift er nicht den Bärendienst, den er seinen Militärs mit einem aus verletzten Eitelkeiten gespeisten Rückzug bereitet.
Strategischer Irrsinn
Es grenzt an Sabotage, die militärischen Hauptquartiere für das Kommando in Europa und Afrika zu schwächen. Es handelt sich um das Drehkreuz für fast alle Operationen im Nahen Osten und Afghanistan, den einzigen Standort in Europa, an dem mit scharfer Munition geübt werden kann und das größte US-Krankenhaus außerhalb der USA. Dieser strategische Irrsinn steht nicht für „America first“, sondern für „Trump zuerst“. Er schadet den USA massiv. Trumps Entscheidung hebt hervor, was der ehemalige politische Direktor im US-Außenministerium, Richard Haas, treffsicher als „Rückzugs-Doktrin” bezeichnet hat.
Seine Präsidentschaft begann mit dem Ausstieg aus dem transpazifischen Handelsabkommen TPP. Es folgten die Aufkündigung des Klimaabkommens von Paris, das Ende des Atomvertrags mit dem Iran, der Rückzug aus der Unesco, dem UN-Menschenrechtsrat und der Weltgesundheitsorganisation. Hoffentlich bekommen die Amerikaner die Situation unter Kontrolle, wenn sie im November wählen. Andernfalls droht nach dem Rückzug von einem Viertel der US-Truppen aus Deutschland auch der Rückzug der Vereinigten Staaten aus der Nato.