Afghanistan ist nach einem kurzen Krieg 1919 unabhängig geworden. Von den 100 Jahren seiner Souveränität verbrachte es die letzten 40 in einem permanenten Kriegszustand. Staatliche Strukturen waren über lange Strecken kaum noch oder nur punktuell vorhanden. Das darf nicht vergessen werden in der Bilanz der internationalen Missionen ISAF und Resolute Support. Waren alle Mühen und Opfer vergebens? Wurden die Afghanen betrogen, verraten und verkauft? Das sind einfache, berechtigte und notwendige Fragen. Doch die Antworten müssen differenziert sein, manchmal aber auch vage bleiben.
Selbst in den aus deutscher Sicht besonders üblen Jahren 2009 und 2010 gab es immer auch Zeichen der Hoffnung. Die Hauptstadt Kabul wuchs rasch, war nahezu komplett und auch weitgehend störungsfrei elektrifiziert. An der im Bürgerkrieg geradezu ausradierten Universität herrschte wieder Lehrbetrieb, auch für Studentinnen. Etliche Medien berichteten über das Geschehen im Lande, durchaus auch kritisch. Frauen engagierten sich für ihre Rechte und die ihrer Kinder. Ähnlich gut lief es in der westafghanischen Metropole Herat. Und das ist – trotz aller Rückschläge – bis heute so.
Errungenschaften stehen auf dem Spiel
Es stehen also durchaus Errungenschaften auf dem Spiel, wenn „der Westen“ – allen voran die Führungsmacht USA – jetzt den endgültigen Abzug vorbereitet. Pikanterweise verhandelt man das zunächst nur mit dem langjährigen Kriegsgegner, den radikal-islamischen Taliban. Die durch Wahlen legitimierte afghanische Regierung wäre gerne beteiligt, aber die Taliban lehnen dies ab – und die USA samt ihren Verbündeten akzeptieren es.
Ist dies gar ein Offenbarungseid der ganzen Weltgemeinschaft? Es waren ja nicht nur Amerikaner, Briten, Deutsche, Franzosen und Italiener, die „am Hindukusch“ kämpften und gleichzeitig versuchten, Infrastruktur und Zivilgesellschaft wieder aufzurichten. In Spitzenzeiten engagierten sich hier 43 Nationen, von Albanien und Armenien bis Schweden, Südkorea, Türkei und Ungarn, legitimiert durch die UN-Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001.
Im Einsatz fielen 3500 alliierte Soldaten, und jeder einzelne Tod ist für die Hinterbliebenen die größtmögliche Katastrophe, gar keine Frage. Trotzdem sind die Verluste in 18 Jahren Guerillakrieg gegen Taliban, Al Kaida und IS vergleichsweise gering. Von einem militärischen Desaster kann nicht die Rede sein, doch selbst US-Generäle sprechen von einem Patt. Das ist ernüchternd genug, aber offenbar sehen es die Taliban ähnlich, sonst würden sie gar nicht erst verhandeln. Ihre Verluste waren ungleich höher als die der Alliierten und der afghanischen Armee, auch sie sind kriegsmüde.
Aber wollen sie wirklich keine Rückkehr mehr zu den Verhältnissen vor September 2001? Reicht ihnen eine Beteiligung an der Macht? Dagegen spricht, dass sie die amtierende Regierung nicht akzeptieren und auch zum Boykott der Wahlen im September aufrufen. Das lässt nichts Gutes ahnen. Andererseits – und darin liegt eine bittere Ironie – könnten nun ausgerechnet die Extremisten von Al Kaida und IS die Taliban zur Zusammenarbeit mit der Regierung zwingen. Denn die Taliban haben längst begriffen, dass sie durch massenhafte Morde an Zivilisten die letzten Sympathien in der Bevölkerung verlieren. Und sie werden registriert haben, dass der IS sich erst in Afghanistan festsetzen konnte, nachdem 2014 das Gros der ausländischen Truppen abgezogen war. Folglich müssten sie nun die verhasste Konkurrenz gemeinsam mit der ungeliebten Regierung bekämpfen.
Für dieses zunächst unrealistisch erscheinende Bündnis spricht, dass im Grunde allen Afghanen die Anwesenheit ausländischer Kämpfer zuwider ist – und Al Kaida wie IS sind quasi eine sunnitisch-extremistische Internationale.
Hinzu kommt, dass sowohl bei den Taliban als auch bei Vertretern der afghanischen Gesellschaft die Versöhnungsbereitschaft wächst. Darauf lassen zumindest diskrete Gespräche Anfang Juli in Katar hoffen, an deren Zustandekommen Deutschland einen wesentlichen Anteil hatte. Offenbar soll diese Rolle nach dem Wunsch des US-Chefunterhändlers Zalmay Khalilzad verstetigt werden, etwa bei den nächsten Gesprächsrunden ab September in Oslo.
Auch die Nachbarstaaten Usbekistan und China sowie Russland und Indien haben Interesse an einer Befriedung Afghanistans. Doch die Nachbarn mit den längsten Grenzen – Iran und vor allem Pakistan – sind bislang offenbar wenig eingebunden. Darin liegt ein Risiko, das alle Hoffnungen zunichte machen kann.