Könnte der Sultan stürzen? Von einer Wählerschaft getragen, die ihn vergöttert wie einen Propheten, schien der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bisher unbesiegbar. Doch im Vorfeld der wichtigsten Wahlen seiner Karriere schwächelt der Autokrat plötzlich. Noch nie in den 16 Jahren Regierung seiner islamisch-neoliberalen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) standen die Siegchancen der Opposition besser. Erdogan muss aber gewinnen, wenn er die Machtfülle des neuen auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems nutzen will, das erst mit dieser Abstimmung in Kraft tritt. Das stellt die Türkei vor eine Zerreißprobe, deren Auswirkungen auch in Europa zu spüren sein werden.
Alles begann damit, dass Erdogan Ende April mit extrem hohem Zeitdruck die Präsidenten- und Parlamentswahlen um 18 Monate auf den 24. Juni vorzog. Einerseits wollte er damit einer drohenden Währungskrise zuvorkommen, die das wirtschaftliche Wohlergehen seiner Wählerschaft bedrohte. Zum anderen wollte er verhindern, dass die neue nationalistische Gute Partei der rechten Hardlinerin Meral Aksener, eine Abspaltung der rechtsextremen MHP, seiner konservativ-islamischen Regierungspartei AKP Wählerstimmen abjagt. Ende Juni hätte die Gute Partei ohne parlamentarische Mindestvertretung noch nicht antreten dürfen.
Der Plan misslang spektakulär. Nur drei Wochen, nachdem Erdogan in seinem Wahlprogramm versprochen hatte, die Zinsen, die Inflation und das gewaltige Außenhandelsdefizit zu reduzieren, musste er seine Versprechen schon wieder einkassieren. Als sich Erdogan bei einem London-Trip mit verrückten Interviews über Zinsen als „Mutter und Vater alles Bösen“ als Hasardeur zu erkennen gab, kam es in kurzer Zeit zu einem beispiellosen Kursverfall der türkischen Lira.
Opposition vollzieht Schulterschluss
Um den Zusammenbruch der Wirtschaft zu vermeiden und seinen Wahlsieg nicht zu gefährden, musste der Staatschef eine 180-Grad-Wende vollziehen und zulassen, dass die Zentralbank in Ankara die Leitzinsen empfindlich erhöhte, was er unbedingt hatte verhindern wollen, um Kredite für seine Mittelstandsklientel nicht zu verteuern. Bis das Lira-Desaster eingedämmt war, verging eine Woche mit Negativschlagzeilen, die sich verheerend auf seine Wahlkampagne auswirkten.
Der zweite Teil des Plans scheiterte an einer historisch einmaligen Zusammenarbeit der traditionell zerstrittenen, extrem unterschiedlichen Opposition, die erstmals seit Jahren politische Fantasie und strategisches Denken bewies. Die sozialdemokratische CHP ermöglichte der Guten Partei die Teilnahme an den Wahlen durch einen Wechsel von Parlamentsabgeordneten und konterkarierte zugleich Erdogans Absicht, sein eigenes Lager zu stärken, indem er der schwächelnden und mit ihm verbündeten MHP durch die Einführung von Wahlallianzen zum Sprung über die Zehnprozenthürde half.
Kurzerhand schloss sich die Opposition unter Führung der CHP ebenfalls zu einer Parteien-Allianz von Mitte-links bis weit-rechts zusammen. Dieses früher undenkbare Bündnis erlaubt der Opposition, ein Maximum an Parlamentssitzen zu erringen und keine Stimmen mehr wegen der Sperrklausel zu verschenken. So ideologisch verschieden sie auch sind, diesmal eint die Kontrahenten die historische Alternative: weiter mit Erdogan oder Schluss mit ihm. Autokratie oder Demokratie.
Da fast alle Umfragen derzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Wahlbündnisse vorhersagen, gerät ausgerechnet die prokurdische Linkspartei HDP, die keiner Allianz angehört, in die Rolle des Königsmachers. Schafft sie den Sprung über die Zehnprozenthürde, was die Prognosen vermuten lassen, ist die Opposition in der Überzahl. Falls der hohe Favorit Erdogan dann in der parallelen Abstimmung das Rennen um die Präsidentschaft gewinnt, muss er mit einer gegnerischen Parlamentsmehrheit fertig werden. Eine schwere Verfassungskrise mit wirtschaftlichen Verwerfungen wäre die Folge.
Während die Opposition nun alles geben muss, um der HDP ins Parlament zu verhelfen, wird Erdogan mit aller Macht versuchen, sie daran zu hindern. Und er arbeitet massiv daran: Am Sonntag machte er seinen inhaftierten Herausforderer und Ex-HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas für den Tod Dutzender Kurden mitverantwortlich. „Das Blut von 53 meiner Brüder klebt an den Händen dieses Demirtas“, sagte Erdogan bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Kurdenmetropole Diyarbakir. „Den Preis dafür wird er früher oder später bezahlen.“ Erdogan bezog sich auf Tote bei Zusammenstößen in Diyarbakir und andernorts im Oktober 2014. Anlass war die Belagerung der kurdischen Stadt Kobane in Nordsyrien durch die Terrormiliz Daesch. Demirtas hatte damals zu Straßenprotesten aufgerufen.
Demirtas wiederum wandte sich am Sonnabend über Twitter direkt an Erdogan: „Jeden Tag diffamierst du mich auf den Plätzen und im Fernsehen. Hier sind mir Hände und Arme gebunden. Aber denkst du etwa, dass auch dem Volk Hände und Arme gebunden sind? Sie werden dir die Antwort, die du verdienst, am 24. Juni an der Urne geben.“
Nach den Erfahrungen des Präsidentschaftsreferendums im vergangenen Jahr befürchten Beobachter auch massive Manipulationen. Umstrittene Wahlgesetzänderungen, deren Annullierung das Verfassungsgericht in der vergangenen Woche abwies, stützen diesen Verdacht. Brandgefährlich könnte es werden, wenn die Umfragewerte sich auch kurz vor dem Urnengang nicht ändern. Dann könnte Chaos ausbrechen, wie nach der Parlamentswahl im Juni 2015, als die AKP ihre absolute Mehrheit verlor und eine unsichtbare Hand im Land Spannungen anheizte und Bomben detonieren ließ.
Es wäre bereits eine schwere Schlappe für den Präsidenten, wenn seine AKP die Parlamentsmehrheit einbüßte. Aber er kann trotz seiner hohen Favoritenrolle nicht einmal mehr darauf vertrauen, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Tatsächlich deuten fast alle Umfragen darauf hin, dass Erdogan in der ersten Wahlrunde keine absolute Mehrheit holt.
Ernste Gefahr durch Muharrem Ince
Denn erstmals hat er es mit Herausforderern zu tun, die ihm ernstlich gefährlich werden können – vor allem der aggressive CHP-Kandidat Muharrem Ince, der Erdogan rhetorisch gewachsen und eine neue, frische Stimme in der türkischen Politik ist. Sollte es zu einer Stichwahl am 8. Juli kommen, hängt alles davon ab, ob sich die Opposition geschlossen hinter einem Kandidaten vereinigt, um das wichtigste Ziel zu erreichen und Erdogan zu schlagen.
Noch aber hat Erdogan Millionen ergebene Anhänger. Noch hält er viele Trümpfe in der Hand: Er kontrolliert die Mainstreammedien, die Behörden, die Justiz, die hohe Wahlkommission. Wohl jeder Türke würde den Satz eines Erdogan-treuen Zeitungskolumnisten unterschreiben, der kürzlich hohe Wellen schlug: „Der Chef würde keine Wahlen ansetzen, wenn er sie verlieren könnte.“
Eine Niederlage hätte für Erdogan weiterreichende Folgen als den reinen Machtverlust. Er verlöre auch die juristische Immunität, die ihn vor Anklagen wegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen schützt.
Die fortschreitende ökonomische Krise lässt ein politisches Erdbeben nicht mehr undenkbar erscheinen. Schon spekulierte ein anderer gut vernetzter Kolumnist, dass Erdogan den Urnengang wieder absagen könnte. Und darauf sollte sich Europa gut vorbereiten.