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Essay Warum Nachrichtenvermeidung am Ende vielen schadet

Wie die freie Meinungsäußerung ist auch der Zugang zu Nachrichten aller Art ein Grundrecht. Wer darauf freiwillig verzichtet, schadet am Ende nicht nur sich selbst, sondern der Gesellschaft insgesamt.
18.02.2024, 08:19 Uhr
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Warum Nachrichtenvermeidung am Ende vielen schadet
Von Joerg Helge Wagner

Putschisten versuchen immer als erstes, alle bewaffneten Kräfte eines Staates unter Kontrolle zu bekommen – in der Regel sind dies Militär, Geheimdienste und Polizei. Unmittelbar danach stehen auf der Prioritätenliste aber die Medien - weit vor der Wasserversorgung oder den Kraftwerken. Die Herrschaft über die Nachrichten ist entscheidend für einen erfolgreichen Staatsstreich. Nur so können aus Putschisten dauerhaft Autokraten und Despoten werden.

Die Türkei hat dafür das beste Beispiel geliefert. Einigen Militärs misslang es im Juli 2016, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in der Putschnacht von den Medien zu isolieren, obwohl sie die Zentrale des öffentlich-rechtlichen Senders TRT besetzt hatten. Erdogan wiederum konnte durch ein Interview mit CNN Türk die Bevölkerung gegen die putschenden Einheiten mobilisieren, zudem sperrte die Regierung unter Premier Binali Yildirim den Zugriff auf die sozialen Medien Facebook, Twitter und YouTube. Plötzlich waren die aufständischen Soldaten isoliert, deren ellenlanges "Manifest" kaum noch jemand hörte. Nach nicht einmal sieben Stunden war ihr Putschversuch gescheitert.

Ironie der Geschichte: Erst danach mutierte Präsident Erdogan vollends zum Autokraten - nicht zuletzt dadurch, dass er die Medien an die Kette legte. Dutzende kritische, auch keineswegs militärfreundliche Journalisten wurden verhaftet und mit Gerichtsverfahren überzogen. Ein prominenter Fall war der deutsch-türkische Korrespondent Deniz Yücel, der für ein missliebiges Interview mit 290 Tagen Einzelhaft büßte.

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Doch nicht nur die jüngste Geschichte der Türkei lehrt, dass die ungehinderte Verbreitung von Nachrichten und der ungehinderte Zugang zu ihnen Grundpfeiler der Demokratie sind. Deshalb haben die Autoren des Grundgesetzes dies nach der Katastrophe der NS-Diktatur auch ganz weit vorne in der neuen Verfassung festgehalten. Danach hat jeder nicht nur das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten, sondern auch, "sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten". Weiter heißt es in Artikel 5, der zu den Grundrechten gehört, dass die Freiheit der Berichterstattung "gewährleistet" werde: "Eine Zensur findet nicht statt."

Pressefreiheit zwischen Theorie und Praxis

Das sind Verhältnisse, nach denen sich die Mehrheit der Menschen immer noch sehnt. Nach dem aktuellen Jahresbericht der Organisation "Reporter ohne Grenzen" herrscht in nur in 52 von 180 untersuchten Ländern weitgehende Pressefreiheit. In 31 Ländern ist die Lage für die Medien „sehr ernst“, in 42 „schwierig“, in 55 gibt es „erkennbare Probleme“. Allein im vorigen Jahr wurden weltweit 45 Medienvertreter in Ausübung ihres Berufs getötet. 54 wurden entführt, 84 sind spurlos verschwunden und 521 sitzen in Haft.

Sie alle zahlen einen immensen Preis für ein Gut, auf das im freien, friedlichen, demokratischen Deutschland offenbar immer mehr Menschen pfeifen. Jeder zehnte Internetnutzer ab 18 Jahren vermeidet aktiv die Nutzung von Nachrichten - vor allem solche über den Krieg in der Ukraine. Das ergab eine Umfrage des Hamburger Leibniz-Instituts für Medienforschung Anfang vorigen Jahres. Sogar 65 Prozent der Befragten versuchten zumindest gelegentlich, auf Nachrichten zu verzichten.

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Natürlich muss man angesichts dieser ernüchternden, ja erschreckenden Zahlen untersuchen, was der permanent anschwellende Nachrichtenstrom mit den Empfängern macht. Warum sind viele des realen Grauens im Nahen Osten oder in der Ukraine überdrüssig, während sie aber gleichzeitig fasziniert „Aktenzeichen XY“ oder unzählige True-Crime-Serien konsumieren? Und wie wappnet man sich gegen eine zu negative Weltsicht?

Vielleicht erst einmal damit, dass man wertschätzt, was man hier jeden Tag wie selbstverständlich genießen kann: Die Freiheit, sich zu informieren, seine Schlüsse zu ziehen und eine am Ende gebildete Meinung zu äußern. Was freilich einschließt, dass auch diese kritisch hinterfragt werden kann - sprich: dass man auch mal entschiedenen Widerspruch aushalten muss. Ein Umstand, der viele Schwurbler überfordert. Die bringen aber das Kunststück fertig, einerseits über die angeblich hier herrschende "Meinungsdiktatur" zu lamentieren und gleichzeitig wenig diskursbereite Politiker wie Donald Trump, Viktor Orbán oder Wladimir Putin zu bewundern.

Flucht vor der "Vierten Gewalt"

Jenseits dieser Medienverächter am rechten und auch linken Rand gibt es aber noch etliche, die eher aus Bequemlichkeit und Konfliktscheu gar nicht so genau wissen wollen, was in der sie umgebenden Welt vor sich geht. Wenn man sich schon den ersten drei Gewalten im Staate - Gesetzgebung, Regierung und Justiz - nicht entziehen kann, dann soll einen doch wenigsten die "Vierte Gewalt" in Ruhe lassen. Diese Bezeichnung für die Medien ist ja nicht nur Gerede: Skandale von Starfighter über Watergate bis hin zu Parteispenden und Dieselbetrug wurden durch sie aufgedeckt - Präsidenten, Minister, Manager mussten in der Folge ihre Posten räumen. Weltbilder und Wahlergebnisse änderten sich, weil auch informierte Bürgerinnen und Bürger ihre Konsequenzen zogen.

Nachrichtenverweigerung aber gleicht dem Verzicht darauf, sein Wahlrecht wahrzunehmen. Doch das passiert eben nicht immer gleichzeitig, und auch darin liegt ein großes Problem. Der vergleichsweise billige Zugang zu Informationen ist das Ergebnis eines ungeheurer langen und auch verlustreichen Ringens, eines beispiellosen emanzipatorischen Aktes. Wer heute aus Überdruss auf Nachrichten verzichtet, entmündigt sich selbst. Schlimmer noch: Er oder sie gefährdet andere, wenn uninformiert gewählt wird. Denn dann gewinnen immer die Populisten mit den vermeintlich einfachen Lösungen.

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Der Brexit etwa war 2016 die Quittung für eine zu große Zahl an Uninformierten und politischen Phlegmatikern. Die einen haben der Propaganda geglaubt. Etwa, dass die EU 76 Millionen Türken visafreie Einreise gewähre. Oder dass Großbritannien wöchentlich (!) 350 Millionen Pfund an die EU zahle. Das war zwar ebenso gelogen, aber einfach zu transportieren: Die Parole passte gut lesbar auf die Seitenwand eines Busses. Die anderen wiederum waren sich sicher, dass diesen Unsinn nur eine kleine Minderheit glaubt - da müsse man sich selbst nicht noch mit den komplizierten Zusammenhängen der Europäischen Union befassen und am Ende an der Urne ein Urteil abgeben. Was für eine fatale Verschwendung von gleich zwei Grundrechten.

Wie der Journalismus reagieren kann

Die hatte für viele Briten zudem ganz konkrete materielle Einbußen zur Folge: Die Reallöhne lagen 2023 nur knapp über dem Niveau von 2008, auch weil der Brexit das Wachstum hemmte. Und wegen der steigenden Lebenshaltungskosten ist die Zahl der hoch verschuldeten Haushalte seit 2017 um zwei Drittel gestiegen, so eine Analyse der Organisation Debt Justice. Davon seien 12,8 Millionen Menschen betroffen, also nahezu jeder fünfte Einwohner. Die Wahlbeteiligung beim Brexit-Referendum betrug 72,2 Prozent, für den Austritt aus der EU stimmte eine knappe Mehrheit von 51,9 Prozent - das war ein gutes Drittel der wahlberechtigten Bürger.

Und was ist mit jenen, welche die Nachrichten finden, sichten, einordnen und überbringen? Natürlich treibt auch die Medien selbst das sinkende Interesse an ihrem Kern um. Was tun? "Konstruktiver Journalismus" lautet ein Vorschlag. Dieser "konfrontiert uns nicht nur mit den heftigen Entwicklungen, sondern sucht ganz bewusst danach, welche Lösungsmöglichkeiten es gibt", so definiert es Frank Überall, Medienwissenschaftler und Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes. Denn auch das ergab die Umfrage des Leibniz-Instituts: Daran besteht durchaus Interesse - zumindest bei gut der Hälfte des Publikums.

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