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Vom Zusammenwachsen und Auseinanderdriften Tag der Deutschen Einheit: Bilanz der verletzten Gefühle

Seit 30 Jahren gehören Ost und West zusammen. In den drei Jahrzehnten ist viel geschehen, vieles hat sich aneinander angeglichen, aber von einer tatsächlichen Einheit kann man noch nicht sprechen.
02.10.2020, 05:00 Uhr
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Tag der Deutschen Einheit: Bilanz der verletzten Gefühle
Von Silke Hellwig

Zeit gilt als ein unbestechlicher Maßstab, das ändert nur nichts am individuellen Empfinden. 30 Jahre können nicht mehr sein als ein Wimpernschlag oder ein elend langer Zeitraum, an dessen Beginn man sich kaum noch erinnern kann. Drei Jahrzehnte entsprechen ungefähr einer sogenannten mittleren Generationenspanne. Wer vor 30 Jahren geboren ist, hat inzwischen meist selbst Kinder. Wenn man sich ansieht, welche Fortschritte in der Digitalisierung des Alltags gemacht wurden, sind 30 Jahre eine halbe Ewigkeit. Schaut man in den Osten der Bundesrepublik, scheinen die Jahre zu schmelzen: Wer über die ehemalige Grenze zwischen Ost und West gelangt, wird – einerlei, in welche Richtung er unterwegs ist – irgendwann feststellen, dass irgendetwas anders ist. Meistens macht es sich an der Architektur fest, manche behaupten, es läge in der Luft.

Unbestreitbar hat sich in den vergangenen 30 Jahren ungeheuer viel getan in den sogenannten neuen Bundesländern. Die Fakten fasst alle zwölf Monate der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit zusammen. Auf 280 Seiten wird für 2020 Bilanz gezogen, zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, über die gesamtdeutsche Solidarität, Wirtschaft, Bevölkerungsentwicklung, Infrastruktur, Arbeitsmarkt, soziale Sicherung, Gesundheit, Bildung, Gleichstellung und und und. So entsteht ein umfassendes Bild, sollte man meinen.

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Ein Fazit nimmt die Einleitung vorweg: „Unterschiede zwischen den neuen und den alten Ländern bestehen trotz aller Erfolge auch fort. Oftmals sind heute jedoch andere regionale Unterschiede von größerer Bedeutung, wie die zwischen strukturschwachen und -starken oder ländlichen und städtischen Regionen. Deutschland ist seit 1990 vielfältiger geworden. Nicht überall sind die Lebensverhältnisse gleichwertig. Aber nahezu überall sind sie dennoch gut.“

Daran gibt es nicht viel zu rütteln. Im Westen weist man mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Erfolge, auf die Infrastruktur, um die Ruhrgebietsstädte ostdeutsche Großstädte nur beneiden können, auf die Milliarden Euro, die in den Aufbau Ost geflossen sind, auf den Lebensstandard. Im Osten erinnert man an die Wunden, die bis heute schmerzen, an gebrochene Erwerbsbiografien, an den Verlust der Identität, an das Gefühl, verraten und verkauft worden zu sein, an die Arroganz der Menschen in den westlichen Bundesländern, von denen erstaunlich viele bis heute keinen Fuß über die ehemalige Grenze gesetzt haben.

Eine Art Phantomschmerz

Alles ist richtig und nur ein Teil der Wahrheit. Wer nach 30 Jahren eine ehrliche Bilanz ziehen will, wäre gemütsarm, würde er nur auf Zahlen schauen. Zu bilanzieren sind auch verletzte Gefühle und angekratzter Stolz, Zukunftssorgen und Minderwertigkeitskomplexe. Viele, die in der ehemaligen DDR bis ins Erwachsenenalter sozialisiert wurden, werden von einer Art Phantomschmerz geplagt. Sie sehnen sich mit den Erfahrungen von heute zurück in eine Zeit, die unwiederbringlich dahin ist.

Oder, wie es auch im Bericht des Ostbeauftragten heißt: „Trotz der eindrucksvollen Erfolge stellt der Stand der deutschen Einheit jedoch nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen zufrieden. In den neuen Ländern schmerzen bis heute die Wunden der SED-Diktatur und die tiefen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche nach der Wiedervereinigung. Gleichzeitig sind die Veränderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte für viele Bürgerinnen und Bürger mit Sorgen und Verunsicherungen verbunden, die zu neuen Polarisierungen in unserer Gesellschaft geführt haben.“

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Blickt man 31 Jahre zurück, kann man in dieser Zeitung Folgendes lesen: „Das war kein Sonntag wie jeder andere, dieser 12. November 1989. Bei strahlendem Herbstwetter flanierten so viele Menschen durch die Innenstadt wie sonst nur an verkaufsoffenen Sonnabenden. Das Besondere daran: Viele, viele von ihnen waren Besucher aus der DDR. Wer nach 11 Uhr in Bremen eintraf, für den war das Postamt 5 An der Weide zunächst einmal die wichtigste Adresse. Dort gab es bis 22.30 Uhr das Begrüßungsgeld. Bis etwa 16.30 Uhr hatten schon mehr als 1000 DDR-Bürger sich dort ihren Hundertmarkschein abgeholt.“

Wer in den eigenen Erinnerungen kramt, erinnert sich daran, wie sich die Menschen gegenseitig auf- und annahmen. Als die Mauer fiel, lagen sich Wildfremde in den Armen. In den folgenden Monaten wurden begeistert Bekannt- und Freundschaften geschlossen. In dem Artikel aus dem Jahr 1989 wird beschrieben, wie ein junge Frau im Postamt auftaucht: „,Wer von euch ist aus der DDR?‘ Wer ,Ich‘ murmelte, bekam eine Flasche Rotwein geschenkt.“

Wessis waren grundsätzlich Besserwessis

Die Phase der Unvoreingenommenheit, der freundlichen Neugier und des prinzipiellen Wohlwollens hielt nicht lange an. Der Besuch aus dem Osten schämte sich bald für seine Präsent-20-Kleidung, der Besuch aus dem Westen – sofern zartfühlend – für seinen Wohlstand. Manche gaben sich überlegen, machten sich über den Titel „Facharbeiterin für Tierproduktion“, über Trabis, über Jahresendflügelfiguren, über Kohleheizungen lustig. Für Menschen im Osten waren Wessis grundsätzlich Besserwessis, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, nur auf den eigenen Vorteil bedacht.

Berater und Betrüger wussten, die Lage für sich zu nutzen. Volkseigene Betriebe wurden „abgewickelt“, schon die Vokabel war ein Schlag ins Gesicht der Mitarbeiter. Das ist 30 Jahre her, aber unvergessen. Wer meint, dass drei Jahrzehnte ausreichen sollten, um Ressentiments zu überwinden, muss sich eines Besseren belehren lassen. Da helfen auch Umzüge kreuz und quer durch die Republik, Ost-­West-Partnerschaften und ihr Nachwuchs (noch) nicht.

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Seit Pegida, seitdem Rechtsradikalismus und Fremdenhass gedeihen, driften West und Ost wieder auseinander, sind die Gräben tiefer geworden. Auch die Debatte zur Einordnung der DDR als Unrechtsstaat führt zu Irritationen. Während manche schon lange zwischen Ost und West nicht mehr unterscheiden als zwischen Nord und Süd, hoffen andere nicht mehr auf Verständnis. Man spricht dieselbe Sprache auf verschiedene Weise, man schweigt sich an.

Trennendes und Verbindendes

Das ist schade. Das ist bedenklich. Doch Einheitsgefühle können nicht angeordnet werden, obgleich sich die Bundesregierung redlich bemüht: Im April 2019 wurde die Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und deutsche Einheit“ gegründet. Sie besteht aus 22 Frauen und Männern, den Vorsitz hat der ehemalige Ministerpräsident Matthias Platzeck inne. Anfang des Jahres wurden „Begegnungs- und Dialogveranstaltungen und moderierte Online-Gespräche“ geführt, auch zwischen Bremern und Rostockern. Die Themen: Trennendes und Verbindendes, Klischees und Mentalitäten, Rollenbilder. Die Fragen: „Wo stehen wir? Wo wollen wir hin?“

Ende des Jahres will das Gremium über seine Arbeit berichten und empfehlen, „wie künftig die innere Einheit gestaltet und gestärkt werden kann“. Ein Ergebnis konnte man schon bundesweit auf Litfaßsäulen sehen, manche Exemplare sind noch in Straßenbahnen zu besichtigen: Die Produkte der Kampagne „Deutschland ist eines: vieles“. Wer wollte da widersprechen? Doch wenn Ost und West inzwischen nicht mehr verbände als – wie unter dem Motto „Das ist sooo Deutsch“ plakatiert – Dackel und Gartenzwerge, Tennissocken in Sandalen, Leuchttürme und Dönerspieße, wäre in 30 Jahren wenig passiert. Darüber ist die Nation doch weit hinaus.

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