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Nach Massenmord in Las Vegas Frage nach schärferen Waffengesetzen in den USA neu entbrannt

Das Massaker mit mindestens 59 Toten am Sonntag in Las Vegas rückt einmal mehr die lockeren Waffengesetze in den USA in den Mittelpunkt - nicht allerdings bei der US-Regierung.
03.10.2017, 20:45 Uhr
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Frage nach schärferen Waffengesetzen in den USA neu entbrannt
Von Thomas Spang

Aus der Ferne sehen die beiden offenen Fenster auf der 32. Etage des Fünf-Sterne-Hotel „Mandalay Bay“ wie leere Augenhöhlen aus, die entsetzt auf den Schauplatz des tödlichsten Massakers in der Geschichte der USA blicken. Sie gehören zur Suite 32 135, in die Stephen Paddock (64) vergangenen Donnerstag eincheckte. Die „Vista“-Suite sei „für diejenigen, die perfekte Aussichten suchen“, preist das Ressort die 170 Quadratmeter großen Räumlichkeiten an.

Für den Profizocker erwies sich die Unterkunft aus einem anderen Grund als ideal. Von hier aus konnte er seine Waffen auf die 30.000 Country-Fans des „Route 91 Harvest“-Festivals richten, die auf der als „The Lot“ bekannten Freifläche vor dem Hotel drei Tage lang in Stetson, Minirock und Western-Stiefeln feierten.

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„Es war wie eine Horror-Show“

Was den weißen Pensionär dazu bewegte, wissen die Ermittler bisweilen nicht. Doch die ganze Welt kennt das blutige Ergebnis seiner Wahnsinnstat: mindestens 59 Tote und weit über 500 Verletzte.

„Ich dachte, die haben aus Versehen vorzeitig mit dem Feuerwerk begonnen“, beschreibt Sirius XM-Radiomoderator Storme Warren den Moment, als sich am Sonntagabend kurz vor dem Finale unter Jason Aldeans „When She Says Baby“ plötzlich „Tak, Tak, Tak“-Laute mischen. „Beim dritten Mal wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war.“

Das Video eines Konzertbesuchers dokumentiert, wie Country-Star Aldean inmitten des Kugelhagels von der Bühne in Sicherheit gebracht wird. Dann bricht Panik aus. „Es war wie eine Horror-Show“, erinnert Ivetta Saldana an Menschen, die blutüberströmt auf dem Boden lagen, Deckung suchten oder vor den Salven davonzulaufen versuchten. Die Kugeln schienen von überall her zu kommen. Daher gingen die herbeigeeilte Polizei und Sondereinsatz-Kommandos zunächst von mehreren Schützen aus. Sehr schnell konzentrierten sich die Sicherheitskräfte auf die oberen Etagen des „Mandalay-Bay“-Ressorts, aus der jemand in die Menge feuerte.

Waffen können umgerüstet werden - legal im Supermarkt

„Das war, als ob jemand mit einem Maschinengewehr auf Fische im Aquarium schießt“, erklärt Experte James Gagliano auf CNN, warum das „Mandalay“-Massaker zum tödlichsten in der Geschichte der USA geriet. Und das erste, bei dem ein Täter eine automatische Waffe einsetzte.

Waffen, bei denen man den Abzugshahn nur festhalten muss, unterliegen in den USA weit strengeren Kontrollen. Die rund eine halbe Million Maschinengewehre müssen registriert werden und dürfen nur nach strikten Überprüfungen verkauft werden. Die zuständige Behörde ATF versucht herauszufinden, ob eine der Tatwaffen registriert war. Möglich ist aber auch die illegale Umrüstung einer halbautomatischen Waffe, was für Waffenenthusiasten kein größeres Problem darstellt. Alternativ verkauft die Industrie ganz legal Hilfsmittel, die denselben Effekt haben. Kostenpunkt: 99 US-Dollar im örtlichen Walmart.

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Einzelperson kann sich ein komplettes Waffenlager zulegen

Die Kugeln flogen so weit, dass Gäste in naheliegenden Hotels die Lichter in ihren Zimmern ausmachten und sich auf den Boden kauern mussten. Der internationale Flughafen von Las Vegas, der gleich hinter dem „Mandalay Bay Ressort“ liegt, stellte den Betrieb ein, nachdem Flüchtende auf die Start- und Landebahnen gelaufen waren.

Ein Feuermelder, der angeblich vom Pulverdampf in der Suite aufheulte, half dem Sondereinsatzkommando das Zimmer zu finden, aus dem die Schüsse fielen. Beim Sturm des Raums brachte sich der mutmaßliche Täter um. In der Suite fanden die Polizisten 23 Waffen, Stative und Munition. Weitere 19 Gewehre und Pistolen stellten sie später bei der Durchsuchung seines Hauses in der Pensionärs-Siedlung „Sun City“ im rund 130 Kilometer von Las Vegas entfernten Mesquite sicher.

In dem Wüstenstädtchen lebte der mutmaßliche Täter mit seiner Freundin ein unauffälliges Leben. Und hier erwarb er kürzlich bei „Guns & Guitar“ seine jüngsten Ergänzungen der Waffenkollektion. „Er hat bei uns nicht den Eindruck hinterlassen, instabil oder unfit zu sein“, teilten die Besitzer des Ladens mit. „Er hat alle Überprüfungen bestanden.“ Genau darin erkennen Aktivisten ein Problem im laxen Waffenrecht der USA. Mehr als die Hälfte aller verkauften Waffen finden sich im Besitz von nur drei Prozent der Käufer. Eine Einzelperson kann sich ein komplettes Waffenlager zulegen, ohne dass die Behörden nur eine einzige Frage stellen.

Forscher erkennen Zusammenhang zwischen Waffenbesitz und Mörderrate

Wie auch im „Mandalay Bay“ anscheinend niemanden auffiel, wie Paddock sein Teufelswerkzeug in mindestens zehn Koffern in die Suite 32 135 brachte. Diese Gleichgültigkeit fand nach dem Massaker einmal mehr ihr Äquivalent in der ritualisierten Reaktion der Politik. US-Präsident Donald Trump nannte den Massenmord in einer Fernsehansprache einen „Akt des absolut Bösen“ und ordnete Halbmast an. Das Land sei vereint in „Traurigkeit, Schock und Trauer“. Er spricht viel über Gott und zitiert Psalm 34:18. Das Wort „Terror“ nimmt er nicht in den Mund. Wie auch seine Sprecherin Sarah Huckabee Sanders sich „in diesem Moment“ eine Debatte über das Waffenrecht in den USA verbittet. So sieht es mindestens die eine Hälfte Amerikas, für die der zweite Verfassungszusatz heilig ist. Jahr für Jahr kaufen sie bis zu 16 Millionen Waffen und bescherten der Industrie damit einen Umsatz von rund 8,6 Milliarden Dollar. Wie nach anderen Massakern schnellten auch diesmal wieder die Aktienkurse der Waffenhersteller in die Höhe. Sturm Ruger legte um sechs Prozent zu, Smith & Wesson fast um sieben Prozent. Impulskäufe, die aus Angst gespeist werden.

Nevada gehört übrigens zu den Bundesstaaten, in denen jede Person über 18 Jahre, die legal eine Waffe besitzen darf, diese an den meisten Orten offen tragen kann.

Die Harvard-Forscher Daniel Hemenway und Matthew Miller untersuchten die Korrelation zwischen Waffenbesitz und Mörderrate in 26 Industrienationen und entdeckten einen „im höchsten Maße signifikanten Zusammenhang“. Die Mordrate mit Handfeuerwaffen liegt im Durchschnitt um das 20-fache über den der OECD-Staaten abzüglich Mexikos.

Senator fordert Kongress zum Handeln auf

Die Befürworter strengerer Waffengesetze ahnen bereits, was ihr Aufschrei bewirken wird. „Nichts wird sich ändern“, schreibt der Demokrat Steve Israel in einem Meinungsbeitrag für die „New York Times“. „Die Flaggen werden auf Halbmast gesetzt, Gedanken und Gebete getwittert, und irgendwann in dieser Woche wird die jüngste Episode des am längsten laufenden Dramas auf C-Span gezeigt: Die Schweigeminute“. Unter die Resignation mischt sich bei anderen, wie Senator Chris Murphy aus Connecticut, den der Schock über das Massaker an den 20 Grundschulkindern in Sandy Hook geprägt hat, die blanke Wut.

„Der Kongress muss endlich seinen Hintern heben und etwas tun“, empörte sich Senator Chris Murphy nach dem „Mandalay“-Massaker, das die 273. Schießerei mit mehr als drei Toten in diesem Jahr ist. „Nirgendwo anders als in Amerika passieren diese schrecklichen Massenschießereien in solcher Regelmäßigkeit.“ Die Gebete blieben „grausam leer, wenn sie sich mit gesetzgeberischer Indifferenz paaren“. Doch dabei wird es nach Einschätzung von Experten auch diesmal bleiben, trotz der 8124 Schusswaffen-Toten im vergangenen Jahr. Im Gegenteil, der Kongress könnte schon bald die Beschränkungen für Schalldämpfer abschaffen. Bei Massenschießereien wäre es dann noch schwieriger, die Täter zu identifizieren.

Keine Anhaltspunkte für Terror

Was bleibt, sind die Rituale der Nachrichtenkanäle, die dem stets selben Drehbuch folgen und den Tätern das geben, wonach diese nach Erkenntnissen von Forschern, die sich mit Massakern beschäftigen, am meisten streben: Aufmerksamkeit.

Harvard-Soziologin Zeynep Tufekci sagt, genau das schaffe Nachahmungstäter. „Massenschießereien sind wie Selbstmorde ansteckend.“ Wie andere Experten rät sie dringend dazu, nicht auf die Täter abzuheben, das Geschehen summarisch zu berichten und im Fernsehen auf die Wiederholung des Horrors in Endlosschleife zu verzichten. „Geben sie dem Mörder nicht die Aufmerksamkeit, die er verlangt.“

Ein frommer Wunsch. Die Polizei teilte den Namen des mutmaßlichen Täters zeitnah mit und ließ die Spekulationen über Stephen Paddock wie Pilze aus dem Boden sprießen. Während rechte Blogger die Fehlinformation verbreiteten, bei dem Täter handele es sich um einen Linken, behaupte der Islamische Staat, er sei einer der ihren. Das FBI hat dafür nach eigenen Angaben keine Anhaltspunkte.

Country-Star: „Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr ich daneben lag“

Was am Tag nach dem Massaker bleibt, sind die Toten, die Wunden der Verletzten, die Trauer der Anghörigen und die Unfähigkeit einer Gesellschaft, in den Spiegel zu schauen. Sonst sähe sie das, was Country-Gitarrist Caleb Keeter erkannte, der beim „Route 91 Harvest“-Festival selber auf der Bühne stand.

„Ich war mein ganzes Leben ein Anhänger des Rechts, Waffen zu tragen,“ erklärte Keeter. Das habe sich letzte Nacht geändert. „Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr ich daneben lag.“ Aber eine hat eine unmissverständliche Botschaft für Amerika: „Genug ist genug“.

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