„Zur Situation in Deutschland“ lautet der Titel einer vereinbarten Debatte im Bundestag am Dienstagmorgen. Die Situation - sie ist spürbar angespannt in Zeiten von Corona, einer gerade erlittenen Flutkatastrophe sowie dem außen- und verteidigungspolitischen Desaster in Afghanistan. Und dann ist auch noch Bundestagswahl. Nach 16 Jahren mit derselben Kanzlerin steht das Land vor einem "Richtungswechsel", das sagt Angela Merkel selbst. Es ist ihre letzte Rede im Bundestag, eigentlich der Moment einer politischen Bilanz, des Abwägens und Innehaltens. Aber so fühlt sich das nicht an, was sich in den nächsten Stunden im Plenum ereignen wird.
Tatsächlich führen die Fraktionen an diesem Dienstag im Hohen Haus Wahlkampf im Liveformat auf. Alle drei Kanzlerkandidaten werden – neben den Fraktionsvorsitzenden von FDP, AfD und Linkspartei – lange Reden halten. Selbst Angela Merkel, die sich stets als Kanzlerin aller Bürgerinnen und Bürger verstanden hat, macht unverhohlen Werbung für den Unions-Kanzlerkandidaten. "Es ist nicht egal, wer dieses Land regiert", sagt sie und warnt vor einem möglichen Bündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei im Bund. Armin Laschet, der von der Bundesratsbank aus zuhört, lächelt zufrieden.
Ihrem SPD-Vizekanzler Olaf Scholz reibt Merkel dessen umstrittene Äußerung unter die Nase, nach der er kürzlich Geimpfte als "Versuchskaninchen für diejenigen, die abgewartet haben" bezeichnet hat. "Niemand von uns ist beim Impfen in irgendeiner Form ein Versuchskaninchen", wird die Kanzlerin deutlich. Scholz wird den Begriff später in seiner eigenen Rede als humorvolle Bemerkung bezeichnen. Doch erst einmal bedankt er sich bei Kanzlerin und Unionsfraktion freundlich für die Zusammenarbeit in den zurückliegenden vier Jahren.
Anschließend hält der SPD-Kanzlerkandidat eine ausführliche Wahlkampfrede, in der er den Koalitionspartner und die FDP scharf angreift. Die Kosten und die gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise könnten nach seiner Überzeugung nicht nur durch Geld bewältigt werden. Nötig sei "Zusammenhalt". Wer aber jetzt nach Steuersenkungen rufe, gehöre eher zu jenen, die das Einkommen eines Bundesministers oder Abgeordneten hätten. Oder er habe Konzepte aus den Neunzigerjahren, spielt Scholz nicht gerade zaghaft auf Laschets Finanzexperten Friedrich Merz an. „Das muss man anders machen“, sagt der SPD-Politiker und präsentiert drei Schwerpunkte, als sei er bereits Kanzler: Sozialpolitik für Familien Rentner, Wohnungspolitik für Miete sowie Arbeits- und Industriepolitik, die die Ökologie mitdenkt. Scholz hat gut reden. Noch während der laufenden Bundestagsdebatte veröffentlicht das Forsa-Institut seine aktuelle Umfrage. Danach sinkt die Union erstmals unter die 20-Prozent-Marke auf 19 Prozent, während die SPD bei 25 Prozent liegt. Die Grünen geben auf 17 Prozent nach.
Deren Spitzenkandidatin Annalena Baerbock setzt in ihrer Rede fast gänzlich auf das Thema Klimapolitik. Die müsse für die kommende Bundesregierung, anders als das bislang der Fall gewesen sei, im Mittelpunkt stehen, geht sie vor allem die Union frontal an. In der gerade überstandenen Hochwasserkatastrophe sei zu beobachten gewesen, dass Deutschland zwar die Schäden beseitige und den Menschen helfe. Genauso wichtig jedoch sei die Vorsorge. Politik trage eine Verantwortung dafür, Menschen zu schützen. In Anspielung auf Armin Laschets Interview mit dem WDR, wonach ein einzelnes Hochwasserereignis noch kein Grund sei, die gesamte Politik zu ändern, sagt Baerbock, dass ein solches Ereignis sehr wohl Anlass für einen Kurswechsel sei. Die Klimapolitik der Bundesregierung habe "in eine Sackgasse" geführt. "Die Klimakrise regelt kein Markt", schimpft sie, "weil dem Markt Menschen herzlich egal sind." FDP und Union quittieren diesen Satz mit lautstarken Protestrufen.
Armin Laschet fühlt sich hörbar von der Grünen herausgefordert. In seiner Bundestagsrede, zu der er als Ministerpräsident berechtigt ist, geht er Baerbocks Partei direkt an. In Nordrhein-Westfalen seien es die Grünen gewesen, die zusammen mit der SPD dem umstrittenen Kohlekraftwerk Datteln zugestimmt hätten und die Rodung des Hambacher Forstes beschlossen hätten. Weil Baerbock heute der Union unterstellt, die Klimawende zu "vermasseln", erinnert er sie daran, dass die Grünen in elf Landesregierungen sitzen. Gut möglich, dass sich die beiden nach dem 26. September in der Bundesregierung wiedertreffen – geführt von einem Kanzler der SPD.