Wenn die Situation auf manchen Intensivstationen nicht so dramatisch wäre, wäre man versucht, an den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" zu erinnern. Die Hauptfigur, ein Wetteransager, erlebt ein und denselben Tag immer wieder – im Unterschied zur Corona-Wirklichkeit im November 2021 lernt der Ansager von Tag zu Tag dazu, bis er die Frau seines Herzens erobert hat.
Wenn man zusammenfasst, wie Bund und Länder, RKI-Präsident Lothar Wieler und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der bremische Senat und andere auf die aktuelle Entwicklung reagieren, sieht man sich um Monate zurückgeworfen. Von der sogenannten dritten zur vierten Welle scheint der Erkenntnisgewinn gering – entschieden wird genauso kopflos, widersprüchlich und uneinheitlich wie zuvor. Die Impfzentren werden geöffnet, geschlossen, geöffnet. Tests sind für die Bevölkerung kostenlos, kostenpflichtig, kostenlos – innerhalb weniger Wochen. Erst vor Kurzem wurden Forderungen nach einem "Freedom Day" laut, dem Ende aller Beschränkungen.
Doch der Schein trügte – erneut. Selbst wenn niemand die Entwicklung voraussehen kann, eine Entwicklung in Wellen ist von einem Auf und Ab gekennzeichnet. Wenn man anfangs noch hoffen konnte, die Pandemie besiegt zu haben, muss man inzwischen einsehen, dass bislang Welle auf Welle folgt. Vorschnelle Entscheidungen sind zu vermeiden, selbst wenn der Druck aus der Wirtschaft und der Bevölkerung enorm ist. Aber ein Leben ohne jede Corona-Beschränkung lässt sich nicht erzwingen.
Dass sich gerade eine neue Regierung bildet, ist keine Entschuldigung für die fortgeschrittene Verwirrung. Zum einen sollte meinen, dass Olaf Scholz, Christian Lindner, Robert Habeck und Annalena Baerbock der Ernst der Lage sattsam bekannt ist. Der Union im Übrigen auch, sodass die Drohung, die Beschlüsse zu den Corona-Auflagen im Bundesrat scheitern zu lassen, einen weiteren Eintrag im großen Buch der politischen Peinlichkeiten rechtfertigt.
Die rot-grün-rote Landesregierung in Bremen bekleckert sich derzeit auch nicht gerade mit Ruhm, was ihre Corona-Politik betrifft. Muss man verstehen, dass an einem Tag bekräftigt wird, den Weihnachtsmarkt ohne Auflagen eröffnen zu wollen und 24 Stunden später Einschränkungen verkündet werden? Muss man nicht, nicht im Corona-Jahr II.
Das Virus passt sich schneller an
Dabei steht Bremen tatsächlich besser da beispielsweise als Sachsen, wegen der hohen Impfquote. Aber das Virus passt sich offensichtlich deutlich schneller an die deutsche Corona-Politik an als umgekehrt. Das ist der Kern des Problems. Die Delta-Variante hat sich rasend schnell verbreitet, weitere, womöglich gefährlichere Varianten gelten laut Experten als wahrscheinlich.
Weit und breit keine Sau, die man dafür schlachten könnte. Bis auf zwei, drei Ersatzsündenböcke, Autofahrer, Klimaleugner und seit Kurzem – die Ungeimpften.
Henryk M. Broder, Kolumnist der "Welt"
Nichts spricht dagegen, den Zugang zu gewissen Veranstaltungen nur Geimpften und Genesenen zu ermöglichen. Wenig hilfreich scheint dagegen, Ungeimpfte zu Tyrannen zu erklären. Henryk M. Broder schreibt in der "Welt": "Es gab noch nie eine Gesellschaft, die so permissiv und repressiv zugleich war. Die sich so frei vorkam und so unfrei agierte. So voller Überdruss an sich selbst und so einem festen Willen zum Untergang. Und weit und breit keine Sau, die man dafür schlachten könnte. Bis auf zwei, drei Ersatzsündenböcke, Autofahrer, Klimaleugner und seit Kurzem – die Ungeimpften."
Es war Bürgermeister Andreas Bovenschulte, der Anfang November in einem Interview mit derselben Zeitung sagte, er setze nicht auf eine Impfpflicht, sondern „auf den zwanglosen Zwang des guten Arguments“. Zwei Wochen später plädiert er dafür, eine Impfpflicht für alle zu diskutieren, für die Zukunft zumindest. Selbst wenn sie kommt – nicht auszumalen, wenn ein Gericht sie kippte. Es wäre nicht die erste Korrektur einer politischen Entscheidung.
In den vergangenen anderthalb Jahren ist es nicht gelungen, dem Virus angemessen zu begegnen: nichts mit Absolutheit auszuschließen (wie eine Impfpflicht), einheitlich zu handeln, statt sich öffentlich in Szene zu setzen (wie die üblichen Verdächtigen), eine Strategie zu entwickeln, um Impfskeptiker aufzuklären. Derzeit deutet alles darauf hin, dass zwei Impfungen auf Dauer nicht ausreichen, drei vielleicht auch nicht. Man wird die Bevölkerung also immer und immer wieder motivieren müssen, sich immunisieren zu lassen. Im Corona-Jahr III müssen Politikerinnen und Politiker beweisen, dass sie das Virus endlich verstanden haben.