Sind wir am Ende die Dummen? Seit Monaten größtenteils durchgeimpft, aber unterm Strich demnächst wieder da, wo wir vor einem Jahr waren? Mit Masken vorm Gesicht beim Einkaufsbummel, auf virtuellen Firmenfeiern, auf Weihnachtsmärkten ohne Glühwein – so sie denn überhaupt stattfinden – und womöglich zum Fest auch ohne Verwandtenbesuch? Dafür mit Testpflicht, wenn wir unsere Lieben im Krankenhaus oder Seniorenheim besuchen wollen, Impfnachweis hin oder her? Und auch wieder Homeoffice und für die Kinder Homeschooling? Das alles ist angesichts der aktuellen Entwicklung zumindest möglich.
Dürfen uns deshalb jetzt jene auslachen, die immer schon gesagt haben, dass eine Impfung gegen das Corona-Virus "eh nichts bringt" oder gar gefährlich sei? Bestimmt nicht. Eher können wir uns bei denen "bedanken", die dafür sorgen, dass Deutschland nach Berechnungen der "Financial Times" im Vergleich westeuropäischer Länder die dritthöchste Quote an völlig ungeimpften Personen hat.
Die Ungeimpften werden jegliche Schuld an den hohen Infektionszahlen weit von sich weisen, aber die Zusammenhänge sind eindeutig. So ist in Bremen – höchste Impfquote bundesweit – die aktuelle Hospitalisierungsrate nicht einmal halb so hoch wie im gesamtdeutschen Durchschnitt. Auf den Intensivstationen wiederum machen die Ungeimpften unter den Corona-Patienten je nach Klinik 80 bis 90 Prozent aus. Und das sind überwiegend Menschen "im besten Alter", während die trotz Impfung Infizierten meist ältere und durch diverse Vorerkrankungen geschwächte Patienten sind.
Kein seriöser Mediziner hat je behauptet, dass die Impfung hundertprozentig vor der Infektion mit dem Virus schützt. Aber sie schützt bei einer Infektion in den allermeisten Fällen vor schweren Krankheitsverläufen, also vor wochenlangem Leiden auf Intensivstationen, schlimmstenfalls mit tödlichem Ausgang. Und genau an diesem Punkt muss die Debatte über individuelle Freiheit, persönliche Verantwortung für das Gemeinwohl und staatliche Fürsorgepflicht ansetzen.
Dabei lohnt es, noch einmal ein Interview zu lesen, das der streitbare liberale Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki Ende Juli der "Welt" gegeben hat. "Jeder Mensch hat das Recht auf Unvernunft", postuliert der FDP-Politiker da, aber er zieht auch eine klare Grenze: "Da, wo die Unvernunft zur unmittelbaren Gefährdung anderer Personen führt." Vor allem, wenn der andere sich nicht schützen könne. Doch Ungeimpfte stellten ja für Geimpfte "keine relevante Gefahr mehr dar".
Leider hat das Pandemie-Geschehen Kubickis These binnen weniger Monaten überholt: Denn wenn geimpfte Unfallopfer oder schwer Erkrankte nicht operiert werden können, weil die Intensivstationen mit ungeimpften Corona-Infizierten überlastet sind, dann stellen Ungeimpfte sehr wohl eine relevante Gefahr für Geimpfte dar – sowohl potenziell als auch ganz konkret.
Gerichte haben etliche freiheitsbeschränkende Maßnahmen zur Corona-Abwehr aufgehoben, wenn sie nur auf Annahmen und Vermutungen beruhten. Das war im Sinne der Gewaltenteilung und Machtkontrolle auch gut und notwendig. Doch nun geht es darum, durch staatliche Maßnahmen Freiheiten zu sichern: nämlich jene der übergroßen Mehrheit der Bürger, die alles ihnen Mögliche getan haben, um sich und ihre Mitmenschen vor der Infektion zu schützen.
Diese Mehrheit fordert inzwischen eine Impfpflicht, wenigstens für einige Berufsgruppen. Das wird wohl nichts, alle Parteien scheuen den dann fälligen Konflikt mit Gewerkschaften und Verbänden. Richtig ist es aber, wenn man die geimpfte Mehrheit vor einem erneuten Lockdown inklusive pauschaler Schließung von Schulen, Geschäften, Kultureinrichtungen und Gastronomie bewahrt, indem man die Pandemie-Notlage für beendet erklärt. Verbunden mit einer strikten 2G-Regelung ist das keineswegs leichtsinnig: Ungeimpfte müssen dann eben draußen bleiben, auch zu ihrem eigenen Schutz. Das kann man sogar als liberaler Mensch vertreten, denn Freiheitsliebe ohne Verantwortungsgefühl ist nichts als vulgärer Egoismus.