Eine Woche nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens hat der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx, ein erneutes Rücktrittsangebot an Papst Franziskus vorläufig ausgeschlossen. „Ich klebe nicht an meinem Amt“, sagte Marx am Donnerstag in München. Er hatte bereits im vergangenen Jahr Franziskus seinen Rücktritt angeboten, dies hatte der Papst aber abgelehnt. „Dieses Angebot war sehr ernst gemeint“, sagte Marx. Nun wolle er sich aber „nicht einfach vom Acker machen.“ Vielmehr wolle er sich „für eine verlässlichere Aufarbeitung, eine noch stärkere Zuwendung zu den Betroffenen und für eine Reform der Kirche“ einsetzen. „Falls ich den Eindruck gewinnen sollte, ich wäre dabei eher Hindernis als Hilfe, werde ich das Gespräch mit den entsprechenden Beratungsgremien suchen und mich kritisch hinterfragen lassen“, sagte Marx. „In einer synodalen Kirche werde ich diese Entscheidung nicht mehr mit mir allein ausmachen.“
Marx nannte das Münchner Missbrauchsgutachten einen „tiefen Einschnitt für die Kirche hier im Erzbistum und darüber hinaus.“ Das Gutachten hatte in der vergangenen Woche von mindestens 497 Missbrauchsbetroffenen und 235 Tätern im Erzbistum gesprochen, und den Verantwortlichen des Erzbistums seit dem Zweiten Weltkrieg Vertuschungen und Desinteresse am Schicksal der Betroffenen attestiert. Er sei erneut „erschüttert und erschrocken, über das Leid, über Täter und Beschuldigte und das Verhalten von Verantwortlichen“, erklärte Marx, der auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war, am Donnerstag.
Kardinal Marx bittet Betroffene um Entschuldigung
Persönlich bat Marx die Betroffenen erneut um Entschuldigung. „Im letzten Jahr habe ich Papst Franziskus geschrieben und auch zuvor schon an anderer Stelle benannt, dass für mich die größte Schuld darin besteht, die Betroffenen übersehen zu haben“, sagte Marx. „Das ist unverzeihlich.“ Es habe kein wirkliches Interesse an ihrem Schicksal und an ihrem Leiden gegeben. Dies habe nach seiner Auffassung auch systemische Gründe. „Wer jetzt noch systemische Ursachen leugnet und einer notwendigen Reform der Kirche in Haltung und Struktur entgegentritt, hat die Herausforderung nicht verstanden“, sagte Marx. „Die Kirche war offenbar für viele Menschen ein Ort des Unheils und nicht des Heils, ein Ort der Angst und nicht des Trostes.“ Auch diese dunkle Seite gehöre mit „zu einem ehrlichen, realistischen Blick auf die Kirche von heute und auf das, was in der Vergangenheit geschehen ist.“
Zurückhaltend äußerte sich Marx zur Frage nach der Verantwortung des emeritierten Papstes Benedikt XVI. Er war im Gutachten der Rechtsanwaltskanzlei „Westphal – Spilker – Wastl“ schwer belastet worden, und musste Anfang der Woche falsche Angaben in seinen Aussagen zu einer Sitzung einräumen, in der die Übernahme eines Missbrauchstäters aus Essen in den Dienst des Erzbistums München und Freising zumindest am Rand der Sitzung thematisiert wurde. Der emeritierte Papst habe eine weitere Äußerung zu dem Gutachten angekündigt, sagte Marx. „Es ist nicht richtig, sofort Forderungen aufzustellen.“ Das Gutachten sei „kein Gerichtsurteil und es ist kein Geschichtsurteil, es ist aber ein wichtiger Baustein.“ Seine Ämter zur Verfügung stellte am Donnerstag dagegen der Leiter des katholischen Büros Bayern und Vorsitzende des Rundfunkrates des Bayerischen Rundfunks, Prälat Lorenz Wolff. Das Gutachten warf ihm in zwölf Fällen kritikwürdiges Verhalten vor. Der Prälat habe sich mehr für die wegen sexuellen Missbrauchs beschuldigten Priester eingesetzt als für die Geschädigten.
Organisation "Wir sind Kirche" mit starker Kritik an Papst Benedikt XVI.
Die katholische Laienorganisation „Wir sind Kirche“ erklärte indes, Ratzinger habe „mit seinem damaligen Nichthandeln und jetzt mit seinen widersprüchlichen Stellungnahmen zu diesem Münchner Gutachten seinen eigenen Ruf als glaubwürdiger Mensch und als Theologe zerstört.“ Erschreckend sei, dass „auch manch andere der damaligen und heutigen Verantwortlichen wohl bis jetzt nicht begriffen haben, wie sehr ihr Handeln, selbst wenn es kirchenrechtlich korrekt gewesen sein sollte, den moralischen Ansprüchen der Kirche damals wie heute widerspricht.“
Kritisch äußerte sich am Donnerstag der Sprecher des „Eckigen Tischs“ von Missbrauchsbetroffenen, Matthias Katsch. „Außer der Erschütterung kam nicht viel“, sagte Katsch gegenüber dem WESER-KURIER. „Es wäre konsequent gewesen, wenn Marx noch einmal seinen Rücktritt angeboten hätte.“ Er sehe nicht, wie der Kardinal glaubhaft den Reformprozess weiter begleiten könne. „Die Vorstellung, dass die Kirche in einer schweren Krise ist, und ausgerechnet die Kapitäne, die das Schiff auf Grund gesetzt haben, es nun wieder flott machen sollen, passt nicht.“ Es komme nun darauf an, dass die Laien in der katholischen Kirche sich trauen, den Moment zu nutzen – etwa bei der Tagung des „Synodalen Wegs“, die in der kommenden Woche in Frankfurt am Main stattfinden solle.
Auch die Präsidentin des Zentralkomitees deutscher Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, ging am Donnerstag zu Marx auf Distanz. "Es fehlten insgesamt konkrete Beispiele für Veränderungen hier und heute", sagte Stetter-Karp. "Dass der Kardinal nach eigenen Worten in einem Jahr vor die Öffentlichkeit treten möchte, um zu erklären, was sich verändert hat, finde ich spät." Zudem sei sie enttäuscht darüber, dass Marx keine klaren Worte zum Fall des ehemaligen Papstes Joseph Ratzinger finde. Noch immer stelle sich Marx vor den emeritierten Papst. "Ein Zeichen der Transparenz und Kritik wäre hier angebracht gewesen."