Erst Bayern, jetzt Hessen - die Wähler haben die Parteien der großen Koalition erneut abgestraft. Bei der Landtagswahl in Hessen erlitten CDU und SPD am Sonntag jeweils zweistellige Verluste. Die Christdemokraten von Ministerpräsident Volker Bouffier blieben zwar stärkste Kraft, fuhren nach den Hochrechnungen von ARD und ZDF aber ihr schlechtestes Ergebnis in dem Bundesland seit mehr als 50 Jahren ein und rutschten unter die Marke von 30 Prozent. Die SPD von Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel erzielte ihr schlechtestes Landesergebnis jemals und erreichte nicht mal mehr 20 Prozent. Die Wahl galt auch als Härtetest für den Fortbestand der Bundesregierung aus Union und SPD. Die Parteivorsitzenden, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Andrea Nahles (SPD), könnten angesichts der Verluste weiter unter Druck geraten.
Große Wahlgewinner sind die Grünen mit ihrem besten Abschneiden bei einer Hessen-Wahl sowie die AfD. Die Rechtspopulisten zogen erstmals in den Landtag ein und sind nunmehr in allen 16 Landesparlamenten vertreten. Auch FDP und Linke bleiben im Landtag in Wiesbaden - damit bekommt Hessen erstmals ein Sechs-Parteien-Parlament.
Noch unklar war am Abend, ob die seit 2013 regierende schwarz-grüne Koalition weitermachen kann. Nach den Zahlen von ARD und ZDF gegen 21 Uhr reichte es knapp nicht für eine Mehrheit. Laut ZDF hätte nur ein Jamaika-Bündnis aus CDU, Grünen und FDP eine Mehrheit, laut ARD wären daneben auch Bündnisse aus CDU und SPD sowie SPD, Grünen und FDP möglich.
Nach den Zahlen der beiden Sender kommt die seit 1999 regierende CDU auf 27,2 Prozent (2013: 38,3 Prozent) - schlechter abgeschnitten hatte die Partei in Hessen zuletzt 1966 mit 26,4 Prozent. Die SPD rutscht ab auf 19,6 bis 19,8 Prozent (2013: 30,7). Die Grünen von Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir machen einen Sprung auf 19,6 Prozent (2013: 11,1). Die AfD klettert auf 13,0 bis 13,2 Prozent (2013: 4,1). Die FDP erreicht 7,7 Prozent (2013: 5,0), die Linke 6,1 bis 6,4 Prozent und erzielt ihr bestes Ergebnis in Hessen (2013: 5,2).
Den Hochrechnungen zufolge ergibt sich folgende Sitzverteilung: CDU 35 bis 36, SPD 26, Grüne 25 bis 26, AfD 17, FDP 10 und die Linke 8 bis 9. Die Wahlbeteiligung lag demnach bei 67,6 bis 68 Prozent - 2013 waren es 73,2 Prozent gewesen, damals fielen Bundes- und Landtagswahl allerdings auf einen Tag. Wahlberechtigt waren 4,38 Millionen Männer und Frauen, darunter 62 000 Erstwähler.
Grüne offen für Schwarz-Grün
Bouffier rechnete damit, dass er im Amt bleiben könne. "Wir werden erneut den Anspruch erheben, die Landesregierung in Hessen anzuführen. Wir sind klar stärkste Fraktion", sagte er in Wiesbaden und kündigte Gespräche mit den anderen Parteien außer Linken und AfD an. Die Grünen zeigten sich offen für eine erneute schwarz-grüne Koalition. Natürlich werde man, wenn es rechnerisch möglich sei, miteinander sprechen, sagte Al-Wazir. FDP-Chef Christian Lindner sagte mit Blick auf eine mögliche Jamaika-Koalition, man sei grundsätzlich zu Koalitionsgesprächen bereit.
Schäfer-Gümbel, der zum dritten Mal Spitzenkandidat seiner SPD war, räumte eine bittere Niederlage an und ließ seine politische Zukunft zunächst offen. Das Ergebnis führte er stark auf den Bundestrend zurück. Man habe "nicht nur keinen Rückenwind aus Berlin erhalten, sondern wir hatten regelmäßig Sturmböen im Gesicht". Der Wahlkampf in Hessen wurde belastet durch GroKo-Streitigkeiten etwa über die Migrationspolitik sowie die schwelende Diesel-Krise.
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte, die Bundesregierung müsse rasch deutlich machen, "dass Schluss sein muss mit den Debatten, ob wir zusammen regieren oder nicht". Die Verluste für die Union in Bayern und Hessen seien "ein klarer Befund von Unzufriedenheit" mit der großen Koalition im Bund. Sie gehe nach aktuellem Stand davon aus, dass Merkel beim CDU-Parteitag Anfang Dezember in Hamburg erneut als Parteichefin kandidiere. Verteidigt Bouffier die Staatskanzlei in Wiesbaden, würde dies Merkel zumindest kurzfristig etwas Luft gegen parteiinterne Kritik verschaffen.
In der SPD könnten die Rufe nach einer Aufkündigung der großen Koalition nochmals lauter werden. Es gibt bereits Forderungen, ein Mitgliedervotum darüber abzuhalten. Parteichefin Nahles sagte, zu den Einbußen in Hessen habe die Bundespolitik "erheblich beigetragen". Der Zustand der Regierung sei "nicht akzeptabel". CDU und CSU müssten ihre inhaltlichen und personellen Konflikte schnell lösen - sie wolle das Schicksal der SPD jedoch nicht in die Hände ihres Koalitionspartners legen. "Es muss sich in der SPD etwas ändern."
Auf Vorschlag von Nahles wollen die Sozialdemokraten am Montag in Präsidium und Vorstand einen Kriterienkatalog beraten, wie die große Koalition künftig besser arbeiten kann und wann für die SPD eine rote Linie erreicht ist.
Wahlforscher machten für den Einbruch von CDU und SPD sowohl landes- als auch bundespolitische Gründe verantwortlich. Einer Analyse von Experten der Forschungsgruppe Wahlen zufolge konnten die Parteien vor Ort nur bedingt mit politischen Leistungen, Spitzenpersonal oder Sachkompetenzen überzeugen. Hinzu sei eine starke Konkurrenz durch die Grünen gekommen, für die sich zahlreiche Wähler kurzfristig entschieden hätten. Den Experten von Infratest dimap zufolge verlor die CDU insbesondere an den bisherigen Koalitionspartner viele Stimmen. Neben der Diesel-Krise und dem GroKo-Zwist spielten im Wahlkampf auch die Themen Wohnen, Bildung und Integration eine große Rolle. (dpa)