Hat das deutsche Außenministerium das Leben Zehntausender Flugpassagiere riskiert? Diese Frage will das gemeinnützige Recherchebüro Correctiv im Zusammenhang mit dem Abschuss des Linienflugs MH17 in der Ostukraine klären. Jetzt hat es sich vor Gericht gegen die Bundesregierung durchgesetzt: Das Auswärtige Amt muss offenlegen, ob es vor möglichen Abschüssen von Passagiermaschinen im Kampfgebiet gewarnt war. So hat jetzt das Berliner Verwaltungsgericht entschieden.
Correctiv wollte unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz erfahren, wer im Auswärtigen Amt wie gut über die Risiken von Flügen über die Ostukraine informiert war. Im dortigen Kampfgebiet war am 17. Juli 2014 eine Boeing 777, die für Malaysia Airlines mit der Flugnummer MH17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur unterwegs war, wahrscheinlich von einer Flugabwehrrakete abgeschossen worden. Alle 298 Insassen waren gestorben.
Die deutschen Fluggesellschaften hatten keine Warnung vom Auswärtigen Amt erhalten. Mehrere Airlines hatten zwar schon Wochen vor dem MH17-Abschuss selbst entschieden, den ostukrainischen Luftraum zu meiden, die Lufthansa aber beispielsweise nicht. Nur 20 Minuten vor dem MH17-Abschuss war sie auf derselben Route unterwegs gewesen.
Das Auswärtige Amt hatte bisher erklärt, vor dem MH17-Abschuss selbst nichts von einer Gefahr für Passagiermaschinen gewusst zu haben. Correctiv besitzt jedoch andere Informationen: Demnach sollen die ukrainischen Behörden die Botschafter der westlichen Staaten am 14. Juli darüber unterrichtet haben, dass der Luftkampf im Osten des Landes dramatisch eskaliert sei. Gerade war eine ukrainische „Antonow“-Militärmaschine in über 6000 Meter Höhe abgeschossen worden: für Experten ein klarer Hinweis darauf, dass schwere Raketensysteme im Einsatz waren – kleinere treffen nicht so hoch. Schwere Systeme dagegen können bis zu 13 Kilometer hohe Ziele treffen – also auch Zivilmaschinen, die etwa zehn Kilometer hoch fliegen. MH17 war auf 10 050 Metern unterwegs.
Bereits im Dezember hatte die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet, dass deutsche Diplomaten in vertraulichen Berichten nach dem „Antonow“-Abschuss dieselben Schlüsse weitergegeben hatten: Die Gefahr habe eine „neue Qualität“. Auch der Bundesnachrichtendienst hatte diese Einschätzung weitergegeben. Das Auswärtige Amt dagegen bestreitet, dass man vom Abschuss der Militärmaschine auf eine Gefahr für Linienflüge schließen konnte.
Über die Unterrichtung der Botschafter durch die Kiewer Regierung behauptet das Ministerium, dass „zivile Überflüge über die Ostukraine und deren Sicherheit bei dem Treffen nicht erörtert“ wurden. Correctiv veröffentlicht nun aber ein Kurzprotokoll der niederländischen Diplomatin Gerrie Willems, wonach zwar nicht explizit über Zivilflüge, jedoch detailliert über die Eskalation des Luftkampfes gesprochen wurde. Es sei klar gewesen, dass auch Linienflüge gefährdet seien – was der deutsche Botschafter in der Ukraine, Christof Weil, so auch nach Berlin weitergemeldet habe. Das Auswärtige Amt wollte das bislang nicht kommentieren.
Vor Gericht wollte Correctiv nun die Offenlegung der Botschafter-Meldung erzwingen – und bekam teilweise Recht: Das Ministerium muss verraten, ob es den Brief von Weil gab, wann Außenminister Steinmeier eingeweiht wurde und wann die Information an Kanzleramt und Verteidigungsministerium weitergegeben wurde. Unter Verschluss bleiben darf dagegen der konkrete Inhalt des Briefs.