Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist elementar. Menschen, die anderer Meinung sind als andere oder als die Mehrheit, müssen sich zusammentun und in der Öffentlichkeit ihrem Unmut Luft machen können. Sie müssen ihre Bedenken und Zweifel zum Ausdruck bringen, ihre Haltung kundtun dürfen. Davon lebt die Demokratie. Meinungsvielfalt ist der Nährboden einer lebendigen Debattenkultur, ohne sie wären demokratische Grundrechte eine bloße Absichtserklärung. Was sich seit einigen Wochen auf der Straße zeigt, ist im Internet schon lange in vollem Gange, in diversen Echokammern, Filterblasen, Verbänden und Verbünden. Vor etwas einem Jahr machte Facebook mit bärtigen Gitarristen und gelenkigen Schwangeren für sich Reklame: „Für jeden gibt es eine Facebook-Gruppe – mehr gemeinsam“, eben auch für Querdenker.
Kritische Geister sind wichtig, keine Frage. Allerdings lässt diese Bezeichnung großen Interpretationsspielraum, wie die Zusammensetzung der sogenannten Querdenker-Demos zeigt. Die Motive der Teilnehmer sind vielfältig. Was zumindest viele eint: das Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Organen, gegenüber Bundes- und den Landesregierungen. Von Legendenbildung und Manipulationen ist die Rede, von Lug und Trug, von Versuchen, Menschenrechte wirtschaftlichen Interessen zu opfern. „Wir haben euch durchschaut“, „Denkpflicht statt Maskenpflicht“ oder „BRD zu Coronazeiten: Wie DDR, nur ohne Westfernsehen“ steht auf Transparenten, „Corona-Diktatur stoppen“ auf Kleidungsstücken.
Dass Bundesbürger ihre verbrieften Grundrechte verteidigen, die durch die Pandemie in nie da gewesenem Umfang eingeschränkt worden sind, ist ein Beweis für die Empfindlichkeit von waschechten Demokraten. Das ist an sich ein gutes Zeichen. Die maulige und meist ungefähre Staatsverdrossenheit dagegen, die damit einhergeht, ist höchst bedenklich – und in weiten Teilen unberechtigt, trotz allem. Und die Frage ist: Wie viel Misstrauen gegenüber der Regierung ist gesund? Wann wird aus einem kritischen Geist ein Verschwörungstheoretiker?
In der Vergangenheit wurde schlicht zu viel gelogen
Dass blindes Vertrauen nicht weniger angemessen ist als generelles Misstrauen, lehrt die Vergangenheit. Das politische Spitzenpersonal selbst hat einen gewissen Anteil daran, dass die Bevölkerung ihm nicht mehr ohne Weiteres jedes Wort glaubt, nicht einmal jedes Ehrenwort. Dazu wurde in der Vergangenheit schlicht zu viel gelogen, wurde die Wahrheit zu oft neu interpretiert. In der „Zeit“ führt Barbara Zehnpfennig lange vor Corona-Demos unter dem Titel „Nichts als die Unwahrheit“ aus: „Die politische Lüge ist so alt wie die Politik selbst, und sie wird uns nicht verlassen, solange Menschen über Menschen herrschen (...) Die verhängnisvolle Erfahrung mit dem totalen Wahrheitsanspruch des Nationalsozialismus und Kommunismus hat den Anspruch auf Wahrheit insgesamt in Verruf gebracht.“
Selbst wenn die Anzahl der Politiker, die in Affären verstrickt waren, im Verhältnis zu ihren lauteren Kollegen im Promillebereich liegt – auch einige wenige können großen Schaden anrichten. Die Amigo-, die Verwandten-Affäre, die Flugmeilen-, diverse Spenden-Skandale haben Zweifel gesät. Das Ehrenwort des ehemaligen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, die Beteuerungen des einstigen Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, das Versprechen von Ex-US-Präsident Bill Clinton haben Argwohn geschürt.
Generell hat sich das Verhältnis der Bevölkerung zum Staat verändert, von Generation zu Generation. Die Bürger haben sich emanzipiert, stehen der Rolle eines Kunden näher als dem eines Untertans. Politische Entscheidungen werden nicht hingenommen. Sie werden hinterfragt, kritisch überprüft, juristisch angefochten. Das Informationsfreiheitsgesetz, im Jahr 2006 in Kraft getreten, soll die Bevölkerung ausdrücklich ertüchtigen, der Staatsgewalt und ihren Institutionen auf die Finger schauen zu können. Davon hätten die Bürger der jungen Bundesrepublik vor bald 75 Jahren nicht zu träumen gewagt.
Indes sind Querdenken, Quervermuten und Querbehaupten nicht ein und dasselbe. Die Demokratie muss alle drei Disziplinen aushalten. Sie muss es, sie kann es und sie wird es.