Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Afghanin berichtet aus Flüchtlingslager „Die Welt hat uns vergessen“

Weil sie Europa für das Paradies hielt, floh die 16-jährige Mahdie aus Afghanistan. Mittlerweile bezeichnet sie das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos als „die Hölle“.
23.12.2020, 17:56 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Philipp Hedemann

Im September setzten verzweifelte Flüchtlinge das heillos überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos in Brand. Moria wurde wegen der humanitären und hygienischen Situation oft als „Schande Europas“ bezeichnet. Nach dem Brand beteuerten griechische und europäische Politiker, dass es kein zweites Moria geben dürfte, doch die Zustände im neuen Übergangslager auf Lesbos sind teilweise noch schlimmer als im alten Lager. Mitte Dezember wurde dort ein dreijähriges Mädchen bewusstlos gefunden. Es soll zuvor vergewaltigt worden sein. 243 Bundestagsabgeordnete haben in einem fraktionsübergreifenden „Weihnachtsappell“ die Bundesregierung aufgefordert, weitere Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen.

Die 16-jährige Mahdie könnte unter ihnen sein. „Die Welt hat uns vergessen. Wenn ich hier sterbe, wird es keiner mitbekommen, und niemanden wird es kümmern“, sagt Mahdie. Sie floh vor über einem Jahr mit ihrem kleinen Bruder und ihrer kranken Mutter nach Europa. Nachdem sie bei der Überfahrt in einem überfüllten Schleuserboot von der Türkei nach Lesbos beinahe ertrunken war, landete sie im Flüchtlingslager Moria.

Lesen Sie auch

„Als wir im Iran gelebt haben, haben die Leute uns dort wie die Tiere behandelt. Ich habe damals gedacht, dass Europa das Paradies sei. Aber was ich in Moria erlebt habe, war die Hölle“, berichtet Mahdie. Sie vermutet, dass die griechische Regierung mit Zustimmung der EU die Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln über Jahre absichtlich unerträglich werden ließ, um weitere Kinder, Frauen und Männer von einer Flucht nach Europa abzuhalten. Sie hat von Verzweifelten gehört, die deshalb versucht haben, sich in Moria das Leben zu nehmen. Einige haben es geschafft.

Nachdem Moria abgebrannt war, lebte sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder tagelang auf der Straße. Mittlerweile haust sie zusammen mit rund 7500 weiteren Flüchtlingen in einem Lager, das auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz aus dem Boden gestampft wurde. „Das neue Lager Kara Tepe ist offensichtlich nicht besser – im Gegenteil: Ärzte ohne Grenzen musste jetzt eine Tetanus-Impfaktion starten, weil Babys in nassen Zelten von Ratten gebissen werden. Das sind entsetzliche Zustände – mitten in Europa. Und die härtesten Winterwochen stehen den Flüchtlingen noch bevor“, sagt Bundesentwicklungsmüller Gerd Müller (CSU) über das Lager, in dem Mahdie jetzt lebt.

Auch Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, bezeichnet die Zustände im neuen Lager als „unhaltbar“. „Die Bilder wiederholen sich, ich bin schockiert. Die Lage der Menschen im neuen Lager erinnert mich allzu sehr an die Auswüchse in Moria, das darf so nicht weitergehen“, betont Caritas-Präsident Prälat Peter Neher. Er fordert: „Die Europäische Union darf nicht noch einmal sehenden Auges eine Katastrophe zulassen. Sie muss handeln.“

Auch die 16-jährige Mahdie aus Afghanistan berichtet: „Moria war schlimm. Aber das neue Lager ist noch schlimmer!“ Neben der Angst sich dort mit dem Coronavirus zu infizieren, fürchtet sie sich vor allem vor einer Vergewaltigung. „In der letzten Nacht hat mal wieder jemand versucht, in unser Zelt einzudringen.„ Sie weiß nicht, ob der Eindringling etwas klauen oder sich an ihr vergehen wollte. Sie schrie so laut sie konnte, der Unbekannte lief davon. “Im Lager nehmen sich manche Männer einfach, was sie wollen. Und ich habe niemanden, der mich beschützen kann“, sagt Mahdie, die aus Angst vor einem brutalen Übergriff auch tagsüber ihr zugiges Zelt kaum verlässt.

Lesen Sie auch

Dort lernt sie mit Youtube-Videos, die sie sich auf ihrem Handy anguckt, Deutsch. Wenn sie Vokabeln paukt, kann Mahdie das Lager, in dem sie festsitzt, manchmal vergessen und sich in eine andere Welt flüchten. In ihren Tagträumen studiert sie dann Pharmazie in Essen, Frankfurt oder Berlin.

Info

Zur Sache

Rund 400 Millionen Euro für Reintegration

Die Bundesregierung hat psychosoziale Maßnahmen für Flüchtlinge in deren Herkunftsländern nach eigenen Angaben in den vergangenen sechs Jahren mit rund 400 Millionen Euro gefördert. Wie es am Mittwoch in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag heißt, wurden alleine im Rahmen der Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ des Entwicklungsministeriums seit 2014 mehr als 60 Projekte unterstützt, die psychische, soziale und gesundheitliche Hilfe für Überlebende von Gewaltkonflikten leisten.

Die Bundesregierung betonte zudem die Bedeutung psychosozialer Unterstützung für die Krisenprävention und Friedensarbeit. Aktuell würden 43 Vorhaben der internationalen Krisenbewältigung und Übergangshilfen betrieben, die auch psychosoziale Maßnahmen beinhalteten. Dazu zählten etwa die Förderung des Gesundheitswesen in Syrien wie auch Präventionsmaßnahmen gegen Menschenhandel in den Balkanstaaten. Zudem gebe es auf diesem Gebiet Zusammenarbeit etwa mit dem Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)