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Kanzler Scholz in den USA "Es werden klare Worte des Kanzlers erwartet"

Angela Stent gilt als die US-Experten für Russland schlechthin. US-Korrespondent Thomas Spang sprach mit ihr über den Antrittsbesuch von Kanzler Scholz in Washington, die Ukraine-Krise und Deutschlands Rolle.
06.02.2022, 19:00 Uhr
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Von Thomas Spang

Frau Stent, im Vorfeld des Besuchs von Bundeskanzler Olaf Scholz gab es eine Menge Aufsehen um die Zuverlässigkeit Deutschlands in der Ukraine-Krise. Wie besorgt sind Sie?

Angela Stent: Nicht zu sehr. Wir haben es mit einer neuen deutschen Regierung zu tun, die bei ihrem Amtsantritt eine außenpolitische Krise erwartete. Die drei Koalitionspartner haben nicht dieselbe Sicht auf Russland. Und selbst innerhalb von Grünen und SPD gibt es Differenzen. Der Kanzler steht vor der Aufgabe, eine Politik zu formulieren, die seine Regierung verbindet und an Traditionen deutscher Ostpolitik anzuknüpfen. Dazu gehört, den Austausch mit Russland zu suchen, miteinander zu sprechen und Dinge diplomatisch zu lösen. Starke Sanktionen inklusive gegen Nord Stream 2 stießen deshalb auf einigen Widerstand.

Zumal es bei Nord Stream 2 ja eine Vereinbarung gab, die Angela Merkel als Abschiedsgeschenk von Joe Biden bei ihrem letzten Besuch mit nach Hause brachte.

Als die beiden sich im Juli 2020 trafen, gab es eine Art Abmachung. Aber das war vor dem Aufmarsch der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine. Die US-Regierung schätzt die Zusammenarbeit mit Deutschland und möchte, dass sie funktioniert. Doch dies sind schwierige Zeiten, und wir haben unterschiedliche Dinge von diesem Kanzler gehört.

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Olaf Scholz hat in Deutschland das Image, ein „Murmeler“ zu sein. Hilft ihm diese Taktik bei Nord Stream 2 an diesem Montag im Weißen Haus?

Biden erwartet die Zusage Deutschlands, dass Nord Stream 2 bei einer Invasion Russlands in der Ukraine zur Disposition steht, also nicht in Betrieb genommen wird. Das Problem besteht in der Verhältnismäßigkeit. Reicht ein kleiner Vorstoß, wie etwa die Anerkennung der Unabhängigkeit der abtrünnigen „Volksrepublik Donezk und Luhansk“, massive Sanktionen wie Nord Stream 2 auszulösen? Oder wäre dies reserviert für einen breiten Einmarsch? Das sind einige dieser nuancierten und schwierigen Fragen, die bei dem Kanzlerbesuch zur Diskussion stehen.

Das Weiße Haus wird den engen Schulterschluss mit seinem wichtigsten Verbündeten in Europa suchen. Gemessen an der Stimmung in den US-Medien erwarten die Öffentlichkeit von Kanzler Scholz aber gewiss mehr als Gemurmel.

Bestimmt auch der US-Kongress, der bei Nord Stream 2 Druck macht. Und zwar über die Parteigrenzen hinweg. Das ist eines der wenigen Themen, bei denen Republikaner und Demokraten sich einig sind. Mehrere Gesetze sind bereits in beiden Häusern anhängig, die im Fall von Sanktionen die Pipeline nicht in Betrieb gehen ließe. Es werden klare Worte des Kanzlers erwartet, was er bei einem Einmarsch zu tun gedenkt.

Im Mittelpunkt steht die Frage wie sich Sanktionen ausgestalten lassen.

Was erhofft sich Präsident Biden sonst von dem Antrittsbesuch des Kanzlers?

Es gibt viel zu besprechen, aber Russland und die Ukraine dürften im Mittelpunkt stehen – vor allem die Frage, wie sich Sanktionen ausgestalten lassen. Einige in den USA würden gerne den Ausschluss Moskaus aus dem Swift-System sehen. Aber das wird nicht passieren. Es geht um die Banken, den Handel und Energie, aber auch Exportkontrollen als Abschreckung. Diplomatisch dürften auch die angekündigten Reisen von Kanzler Scholz und Emmanuel Macron nach Russland zur Sprache kommen. Zumal auch die USA an einem diplomatischen Ausweg interessiert sind. Schließlich geht es um die Frage, wie die Ukraine gestützt werden kann.

Geht es dabei auch um Waffenlieferungen?

Deutschland bekommt in den US-Medien eine schlechte Presse, weil es aus verständlichen Gründen nicht bereit ist, Waffen an die Ukraine zu liefern. Ich glaube nicht, dass Biden da Druck machen wird. Es gibt andere Wege, die Ukraine zu unterstützen. 

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Lassen Sie uns den Blickwinkel einmal umkehren und darüber sprechen, wie Russland die Rolle der Deutschen nach dem Regierungswechsel sieht. Wittert Putin in dem Moment des Übergangs von Merkel zur Ampel Schwäche?

Putin und Bundeskanzlerin Merkel haben über Jahre eine Beziehung aufgebaut. Sie verstand ihn unter den Weltführern vermutlich besser als jeder andere. Das hat auch damit zu tun, weil sie gut Russisch spricht und in der DDR aufwuchs. Es gab bestimmt Spannungen, aber der Gesprächsfaden riss nie ab. Ihr Abgang hat aus Sicht des Kreml viele Fragen aufgeworfen.

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Die SPD hat eine lange Tradition in der Ostpolitik. Da sollte Putin doch ganz beruhigt sein.

Die Erwartung an einen Kanzler der SPD ist gewiss, dass er an die Ostpolitik anknüpft. Andererseits zeigt sich die grüne Außenministerin Annalena Baerbock – wie die Grünen insgesamt – sehr kritisch gegenüber Russland. Baerbock hat sich gegenüber dem russischen Außenminister Sergej Lawrow wacker geschlagen. Moskau hat seine Sicht auf Deutschland wegen der Unterstützung von Sanktionen nach der Invasion der Krim 2014 verändert. Aber es besteht immer noch die Hoffnung, Berlin werde auf die USA einwirken, mehr auf die russischen Sicherheitsbedenken zu hören.

Es scheint, Putin hat diesen Moment mit Bedacht gewählt. Der Westen ist nach vier Jahren Donald Trump geschwächt, und Biden hatte keinen guten Start in seine Präsidentschaft.

Putin hat den chaotischen Rückzug aus Afghanistan und deren Auswirkungen genau verfolgt. Er sieht, wie die US-Regierung Schwierigkeiten hat, ihre Agenda durch den Kongress zu bekommen und mit den Problemen einer hoch polarisierten Gesellschaft umzugehen. Und dann schaut er nach Europa. Selbst wenn Biden eine Menge Energie investiert, die transatlantischen Beziehungen und speziell die zu Deutschland nach Trump zu beleben, bleibt Skepsis in Europa. Das Vertrauen ist nicht mehr dasselbe wie vor Trump. Putin sieht auch, was in Deutschland passiert, und die Ablenkung in Frankreich durch die Wahlen. Schließlich haben alle Länder Europas mit Covid und den wirtschaftlichen Folgen zu tun. Und dann ist da noch ein Präsident in der Ukraine, dessen Beliebtheit sinkt.

Das klingt nach dem perfekten Sturm für den russischen Führer, dessen Doktrin, wie Sie sagen, nicht erst seit gestern besteht.

Als Putin 2000 an die Macht kam, versprach er, Russlands Rolle als Großmacht wiederherzustellen. Ich denke, damals wollte er das durch eine Verbesserung des Verhältnisses zum Westen erreichen. In seiner Rede vor dem Bundestag 2001 sprach er über die deutsch-russische Freundschaft und Russlands Rolle in Europa. Nach dem 11. September unterstützte er die USA anfangs in Afghanistan. Es gab diese kurze Phase, wo er die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und Europa verbessern wollte.

Der damalige US-Präsident George W. Bush zeigte damals nicht viel Gegenliebe. War das ein Fehler?

Putin war jedenfalls schnell mit den USA desillusioniert. Er dachte, sie würden Russland als Großmacht anerkennen und ihre Bedenken in Betracht ziehen. Stattdessen zog sich die US-Regierung aus dem ABM-Abrüstungsvertrag zurück, begann den Irak-Krieg und hatte aus Putins Sicht auch bei den Unruhen in Georgien und der Ukraine ihre Finger im Spiel. In seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 klagte er die USA an. Seitdem versucht er das, was er Unrecht empfindet, zu korrigieren.

Das heißt, es geht nicht nur um die Ukraine – sondern die Ukraine ist bloß das Vehikel, die Geschichte in Europa umzuschreiben?

Das ist wahr. Es geht auch um die Ukraine, wie Putin in seinem Aufsatz vom Juli vergangenen Jahres dargelegt hat. Darin behauptet er, die Ukraine habe historisch keinen Anspruch darauf, ein eigener Staat zu sein. Ihre Abspaltung von der Sowjetunion markiert für Putin den neuralgischen Punkt, weil plötzlich zwölf Millionen Russen außerhalb Russlands in der Ukraine lebten. Es geht dort auch um die Wiederherstellung der russischen Einflusssphäre nach dem Ende der Sowjetunion. Und ein Zurückdrängen der aus Putins Sicht Übergriffigkeit des Westens durch die Ost-Erweiterung der Nato.

Kommt Europa nach Jalta und dem Zusammenbruch der Sowjetunion angesichts der Dinge an einer dritten Neuordnung vorbei?

Abhängig von dem, was jetzt in der Ukraine passiert, wird es eine Neubewertung der Sicherheitsarchitektur in Europa geben müssen, an deren Bestand auch Russland ein Interesse hat. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa könnte ein Ort für Gespräche darüber sein.

Sehen Sie einen gesichtswahrenden Weg, eine weitere Eskalation zu vermeiden und Krieg in Europa abzuwenden?

Die beiden grundsätzlichen Forderungen Russlands – ein Verzicht auf eine künftige Erweiterung der Nato und ein Rückzug aller Nato-Streitkräfte auf die Position von Mai 1997 vor den ersten Neuaufnahmen – sind wirklich nicht verhandelbar für den Westen. Aber wie die an die Zeitung „El Pais“ durchgestochene schriftliche Antwort an Russland zeigt, gibt es Spielraum für Gespräche, von Truppenstationierung über Raketen bis hin zu vertrauensbildenden Maßnahmen. Dafür müsste Russland auch etwas geben. Ein Rückzug aus Georgien und der Donbas-Region etwa.

Sie erwähnten die Geschichte in der „El Pais“. Wie ungewöhnlich sind die Durchstechereien von vertraulichen Dokumenten und Geheimdienstinformationen oder das öffentliche Spekulieren über die Pläne der anderen Seite?

Das ist ungewöhnlich. Vielleicht denken sie, dass dies ein Weg ist, einen militärischen Konflikt zu vermeiden. Niemand möchte auf dem falschen Fuß erwischt werden. Und es ist ein Signal an Russland, dass die USA Einsicht in ihre Pläne haben.

Gemessen an der Hartnäckigkeit, mit der Putin seine Pläne verfolgt, und der Ungewissheit seit der Erfahrung mit Donald Trump, wäre es nicht dringend für die EU, sich um ihre eigene Sicherheit zu kümmern?

Die Idee einer strategischen Autonomie Europas und der Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungs-Streitmacht wäre sehr hilfreich. Es würde die Sicherheit auf dem Kontinent erhöhen. Diese Ideen gibt es seit Jahrzehnten, aber leider ist noch nie viel in diese Richtung passiert. Das setzte voraus, dass einige Länder bereit wären, Geld dafür auszugeben.

Das Gespräch führte Thomas Spang.

Zur Person

Angela Stent (74)

gilt als Grande Dame der Experten für Russland und Osteuropa in den USA. Sie half den US-Präsidenten George W. Bush und Bill Clinton, die Politik in Europa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu gestalten. Ihr 2019 erschienenes Buch „Putins World“ gilt als Standardwerk über den russischen Präsidenten.

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