Die Debattenkultur in sozialen Netzwerken lässt seit Langem zu wünschen übrig, doch sie leidet auch offline. Das Unbehagen wächst, weil sich die Gesellschaft im und am politischen Diskurs spaltet. Mehr und mehr Themen polarisieren, für gemäßigte Töne und Nuancen bleibt wenig Platz. Oft geht es auch gar nicht mehr um Meinungen, sondern um Bekenntnisse. Wer nicht ausdrücklich und komplett dafür ist, gehört automatisch zu denen, die dagegen sind.
Im Internet sind Verunglimpfungen, Beleidigungen, Pöbeleien gegen unerwünschte Anschauungen gang und gäbe. Das gilt nicht etwa nur für Positionen an den Rändern des politischen Spektrums, sondern beispielsweise auch für Einstellungen zu Tier-, Natur-, Klima- oder Impfschutz. Was man als inhaltlich vermintes Gelände bezeichnen kann, gewinnt an Fläche. Ob Flüchtlings- oder Frauenfragen, ob Religion oder Migration – jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt, jede Sprechpause, jedes Zwinkern kontrolliert und missverstanden, auch beabsichtigt. Der Rest ist Schweigen. Die politische Kultur nimmt Schaden.
Widerspruch zu bekommen, ist unangehem
Im Mai dieses Jahres befragte das Allensbach-Institut Bürger zum Thema Meinungsfreiheit: 63 Prozent vertraten die Ansicht, dass ungeschriebene Gesetze regelten, welche Meinungen als akzeptabel eingestuft wären und welche tabu seien. 58 Prozent gaben an, sie äußerten sich zu manchen Themen in der Öffentlichkeit lieber vorsichtig. Die Ergebnisse sagen nichts darüber aus, ob es den Befragten an Selbstbewusstsein, Energie oder Zivilcourage fehlt, um die eigene Einstellung auf der Zunge zu tragen. Man muss vermuten, dass es Zusammenhänge gibt. Widerspruch zu ernten, ist unangenehm. Die eigene Meinung an der anderer zu schärfen, zu vertiefen oder gar zu überdenken, ist mühsam.
Wem inhaltliche Auseinandersetzungen und Überzeugungsarbeit zu anstrengend sind, hält den Mund und macht andere dafür verantwortlich. Die „Zeit“ warf dem Meinungsforschungsinstitut vor, „rechte Ressentiments“ zu bedienen – eine Einordnung, die eine Debatte im Keim erstickt. Dass es nicht etwa die AfD-, sondern die FDP-Fraktion war, die in der vergangenen Woche eine Aktuelle Stunde im Bundestag anstrengte, ist schon bemerkenswert. Der Titel: „Meinungsfreiheit in Deutschland verteidigen“. Anlass waren die Sprechverbote für Bernd Lucke und Thomas de Maizière. Der ehemalige AfD-Vorsitzende wurde daran gehindert, an der Universität Hamburg ungestört eine Vorlesung über Makroökonomie zu halten. Der frühere CDU-Bundesinnenminister de Maizière (CDU) war in Göttingen Dutzenden Demonstranten nicht willkommen. In Thüringen wurden sowohl CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring, als auch der Grünen-Fraktionschef Dirk Adams massiv bedroht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sah sich ebenfalls genötigt, sich gegen „aggressive Gesprächsverweigerung, Einschüchterung und Angriffe“ zu wenden.
Auch in Bremen Veranstaltungen gestört
Auch in Bremen wurden in der Vergangenheit Gäste vergrault, weil deren Einstellung nicht gefiel. 2016 vereitelte der Allgemeine Studierendenausschuss, dass der Historiker Jörg Baberowski in Uni-Räumen auftrat. Eine CDU-Veranstaltung mit der konservativen Publizistin Birgit Kelle über „Gender-Verrücktheit“ im Presseclub wurde gestört. 2012 sollte der einstige bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) an einer Diskussion zu „20 Jahre Asylkompromiss“ teilnehmen. Er wurde unter Polizeischutz gestellt. Die Veranstaltung musste abgebrochen werden. Eine inhaltliche Auseinandersetzung wurde unterbunden. Die potenziellen Zuhörer wurden daran gehindert, sich zu informieren und sich ihre eigene Meinung zu bilden.
Meinungsfreiheit bedeutet nicht nur, selbst ungehindert eine Haltung entwickeln zu dürfen und sie kundzutun, sondern sie verlangt, konträre Positionen ertragen zu können. Wer sich ausschließlich mit dem eigenen Meinungsspektrum beschäftigt und seine Echokammer nicht verlässt, kann sich nicht als tolerant beweisen. Das Wort stammt aus dem Lateinischen: tolerare, was so viel heißt wie erdulden. „In die Toleranz ist die Ablehnung sozusagen eingebaut. Man muss sich klarmachen, dass man tolerant nur gegenüber etwas sein kann, das man im Grunde ablehnt“, so Rainer Erlinger, Spezialist für Gewissensfragen der „Süddeutschen Zeitung“.
Es ist nicht ins Belieben Einzelner gesetzt, wo Meinungsfreiheit beginnt und wo sie aufhört. Die deutsche Verfassung zieht die Grenzen, sie wollen verteidigt werden, auch noch nach 70 Jahren, in alle Richtungen, auch wenn‘s schmerzt.