Freudentänze statt Gewaltorgien in den Straßen der amerikanischen Metropolen – das mit Spannung erwartete Urteil im Prozess um den Tod George Floyds geriet zu einem ganz besonderen Moment für die USA. Der dreifache Schuldspruch gegen den weißen Polizisten, unter dessen Knie ein schwarzer Mann wegen eines falschen 20-Dollar-Geldscheins grausam erstickte, reinigt die Nation nicht von der Sünde des Rassismus. Aber er markiert einen Fortschritt.
Es ist das erste Mal in Minnesota und eines der wenigen Male in den USA, in dem ein Polizist wegen exzessiver Gewalt gegen Schwarze zur Rechenschaft gezogen wird. Dabei hätten schon vor Derek Chauvin viele andere Mörder in Uniform nach ihrer Verurteilung in Handschellen aus dem Gerichtssaal geführt werden müssen.
Wie selten das vorkommt, lässt sich an der Nervosität ablesen, die vor der Entscheidung der Geschworenen zu spüren war. Aus Sorge vor Rassenunruhen im Falle eines Freispruchs hatte der Gouverneur von Minnesota den Notstand ausgerufen. Minneapolis und viele andere Metropolen hatten ihre Innenstädte in Hochsicherheitszonen verwandelt. Besondere Kennzeichnen: vernagelte Schaufenster, Zäune und Nationalgardisten. Eine Gesellschaft, die mit sich und ihrer Geschichte im Reinen ist, bereitet sich nicht so auf ein Gerichtsurteil vor. US-Präsident Joe Biden legte den Finger auf die Wunde, als er daran erinnerte, dass es eines „Mordes am helllichten Tag“ bedurfte, um das Unrecht des Rassismus zu erkennen.
Genauer gesagt war es das Video einer couragierten 17-jährigen, das über neun Minuten und 29 Sekunden in schonungsloser Brutalität dokumentierte, wie ein Mörder mit Polizeiplakette sein Opfer hinrichtete. Dessen letzte Worte „Ich kann nicht atmen“ sind zur Metapher für eine Gesellschaft geworden, die schwer unter den Konsequenzen eines strukturellen Rassismus gelitten hat.
Jede Begegnung ein Risiko
Die Polizeigewalt gegen Minderheiten ist eine Ausprägung davon. Wie auch das gesamte System der Strafjustiz den Geist des 19. Jahrhunderts atmet, in der die weiße Mehrheit die Staatsgewalt zur Unterdrückung und Diskriminierung der schwarzen Minderheit missbrauchte. Nach wie vor besteht die Funktion der Polizei vielerorts darin, Schwarze und Latinos zu kontrollieren, die in struktureller Armut leben. Solange die Polizei farbige Amerikaner wegen Bagatellen ungestraft drangsalieren darf, bleibt jede Begegnung mit einem Polizisten ein Risiko. In diesem Fall verkalkulierte sich der verurteilte Mörder George Floyds, nach alter Sitte ungestraft davonzukommen.
Doch etwas hat sich geändert, seit eine Jury in Los Angeles vor drei Jahrzehnten die Polizisten freisprach, die Rodney King vor laufender Kamera den Schädel einschlugen. In Minneapolis verfing auch nicht der Rassismus, der sich in den Aussagen der Verteidigung versteckte. Jeder Amerikaner versteht, was damit gemeint ist, wenn jemand betont, dass eine Festnahme in einem Gebiet „mit hoher Kriminalität“ erfolgt sei. Oder das Opfer als „unter Drogen stehendes Muskelpaket“ bezeichnet wird.
Dank der Allgegenwart von Smartphones kann das wirkliche Geschehen nicht länger versteckt werden. In diesem Fall haben rund eine Milliarde Menschen weltweit mit eigenen Augen sehen können, was George Floyd widerfuhr. In den USA löste das Massenproteste aus, bei denen weiße, braune und schwarze Amerikaner gleichermaßen postulierten: „Black Lives Matter“. Auch die zwölf Geschworenen glaubten, was sie sahen, und verurteilten Chauvin.
Ausgerechnet am Tag des Schuldspruchs machte die Nachricht von tödlichen Polizeischüssen auf ein 15-jähriges Mädchen in Ohio Schlagzeilen. Das unterstreicht nur, wie alltäglich der Einsatz tödlicher Gewalt immer noch ist. Wie auch die Wut über den Tod des 20-jährigen Daunte Wright in Minneapolis weiter schwelt, der nicht mehr lebt, weil eine Polizistin ihre Dienstwaffe mit einem Elektroschocker verwechselte. Wirklichen Grund zum Jubeln gibt es erst, wenn es zur Regel geworden ist, dass schießwütige Polizisten vor Gericht gestellt und verurteilt werden.