EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gab zu, ihre Rede zur Lage der Union mit einer "schonungslosen Aussage" zu beginnen: Europa kämpfe um seine Zukunft, sagte sie. Ihre Analyse mag düster klingen, sie ist in der neuen Weltordnung und angesichts von Kriegen und Krisen aber richtig. Von der Leyen benannte die prekäre Lage klar und hielt damit vor allem den Mitgliedstaaten den Spiegel vor.
Ihre Ansprache war auch ein Versuch des Wachrüttelns. Die EU müsse sich nicht nur anpassen, sondern fundamental neu aufstellen, um sowohl den Wohlstand ihrer Bürger zu sichern als auch ihren Einfluss zu bewahren als geopolitischer Akteur. Bislang verfange sich die Gemeinschaft allzu oft im Klein-Klein der nationalen Interessen und Streitigkeiten.
Als "schmerzhaft" bezeichnete von der Leyen etwa die Unfähigkeit Europas, sich auf ein gemeinsames Vorgehen im Nahostkonflikt zu verständigen. Zwar musste die Kommissionspräsidentin in den vergangenen Monaten zu Recht viel Schelte einstecken, weil sie trotz des immer aggressiveren Vorgehens der israelischen Regierung im Gazastreifen vor allem durch Stille auffiel. Es fehlte an Führung von Europas mächtigster Politikerin.
Das Scheitern in der Nahostfrage offenbarte die Doppelstandards der Europäer wie unter dem Brennglas. Dann schwenkte von der Leyen um, indem sie scharfe Maßnahmen gegen Israel verkündete. Demnach sollen alle bilateralen Zahlungen gestoppt werden. Natürlich kommt der Kurswechsel zu spät, da haben ihre Kritiker recht. Aber handelt es sich wirklich um reine Symbolpolitik, um Skeptiker zu besänftigen?
Es war ein gewagter Schritt von der Leyens, bei dem in der Union umstrittenen Thema so deutlich Stellung zu beziehen. Sie sandte damit eine machtvolle Botschaft aus – sowohl an Jerusalem als auch an die Regierungen in Berlin, Wien oder Prag. Ihnen warf sie indirekt vor, Sanktionen zu blockieren und damit zu wenig zu unternehmen gegen die "menschengemachte Hungersnot" als Kriegswaffe im Gazastreifen, die Pläne Israels für weitere Siedlungsprojekte im Westjordanland oder den Versuch Jerusalems, die Zweistaatenlösung zu untergraben.
Die EU verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, um Israel unter Druck zu setzen. Es liegt in der Hand der Mitgliedstaaten. Sie sollten den eindringlichen Appell von der Leyens ernst nehmen.