Der heutige Weg der Türkei führt weg von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechten und Meinungsfreiheit. Der Putschversuch, der dringend aufgeklärt werden müsste, dient als Rechtfertigung. Tausende Beamte wurden entlassen, Zehntausende Männer und Frauen ohne begründeten Verdacht eingesperrt. Es sind Journalisten, Lehrer, Richter, Anwälte, Akademiker, Politiker, Bürgermeister, Soldaten, Menschenrechtler und mit ihnen Hunderte kleine Kinder. Über 400 Verhaftungen gab es wegen Kritik am Angriff auf Afrin.
Kritik an der Regierung ist für Bürger und Journalisten riskant. Mehr Journalisten als in allen anderen Ländern sind im Knast. Das türkische Verfassungsgericht urteilte jüngst, die Haft zweier prominenter Autoren sei ungesetzlich. Mehmet Altan und Sahin Alpay bleiben trotzdem eingekerkert. Auch Taner Kilic, Amnesty-Türkei-Vorsitzender, kommt entgegen einem richterlichen Beschluss nicht frei. Die Fälle der Journalisten Deniz Yücel und Ahmet Sik, des Oppositionspolitikers Selahattin Demirtas, der Menschenrechtler Osman Kavala und Taner Kilic zeigen, dass an Präsident Erdogan die deutschen und die EU-Forderungen abprallen, zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren. Nachdem das türkische Verfassungsgericht nicht mehr respektiert wird, muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ohne weitere peinliche Verzögerung über die Fälle von Unrecht entscheiden.
Denke ich an die Türkei, bin ich oft zornig, oft auch traurig. So gute Köpfe und demokratischer Geist, so viel Zukunft für das Land verschwinden hinter Gefängnismauern. Als würde die Zeit zurückgedreht. Was können wir tun? Die Beitrittsverhandlungen beenden? Sie finden schon lange nicht mehr statt. Und niemand glaubt oder will, dass die Türkei von heute Mitglied der EU wird. Unsere Verträge lassen das auch gar nicht zu.
Bisher reagiert Erdogan nur auf drohende wirtschaftliche Verschlechterung. In der EU muss entschieden werden, ob und wie unsere wirtschaftliche Macht einsetzen. Und welche Zukunft wir für die Beziehungen zur Türkei wollen.
Emmanuel Macron hat eine Assoziierung vorgeschlagen. Es ist mindestens die Hälfte der Türken, es sind Tausende politische Häftlinge und ihre Familien, die erwarten, dass alles versucht wird, die Umkehr zur Rechtsstaatlichkeit zu erreichen. Ein Nein zum Beitritt reicht dafür nicht.
Der türkische Angriff auf Afrin bricht internationales Recht. In Syrien eskaliert der Krieg. Es droht ein Flächenbrand, in den Despoten die weitere Region ziehen und in den auch die Türkei hineingezogen werden kann. Die EU und die internationale Gemeinschaft müssen politisch alles daran setzen, einen neuen Flächenbrand zu verhindern.
Zur Person:
Unsere Gastautorin ist bis 2016 Vorsitzende der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament gewesen. Im Auswärtigen Ausschuss engagiert sich die 61-Jährige für die Länder Osteuropas und die Türkei.